Hanna Liss
Jüdische Bibelauslegung
Mohr Siebeck GmbH & Co. KG
[Zum Inhalt]
|V|In der Erklärung der biblischen Urkunden prägt sich am schärfsten das religiöse Bewusstsein der Zeit aus.
Abraham Geiger (1847)
[Zum Inhalt]
„Eine Geschichte der Bibelexegese im Zusammenhange mit den zeitlichen Einflüssen, den gleichzeitigen sonstigen geistigen Bewegungen ist daher ein Werk von der größten Wichtigkeit für die ganze Religionsgeschichte.“ Diesen Satz formulierte Abraham Geiger schon beinahe am Ende eines langen Wissenschaftlerlebens (Geiger 1870a, 217) und gestand in diesem Zusammenhang, dass er sich eigentlich viel zu wenig mit der (Geschichte der) Bibelauslegung der Juden, der Parschanut , beschäftigt habe. Zur Entschuldigung führt er gegenüber seinen Lesern an, dass er dies „nicht leisten konnte“. Tatsächlich war es aber vor allem Geiger gewesen, der die Geschichte der jüdischen Bibelauslegung stets als zentralen Teil einer Jüdischen Theologie verstanden und entsprechend kontextualisiert hatte, und erst hierin erschließt sich recht eigentlich auch die Vielfalt und Vielstimmigkeit, wenn nicht sogar die Unübersichtlichkeit einer Reihe sehr unterschiedlicher Literaturen, Genres, Themen und Methoden, die unter dem Topos der Bibelauslegung mehr oder weniger locker an den großen Strang der literarischen Produktivität der Juden angebunden sind.
Dieses Lehrbuch zur jüdischen Bibelauslegung entstand auf der Basis einer Vorlesung zur Geschichte der jüdischen Bibelauslegung vom Mittelalter bis in die Moderne und integriert dabei an der einen oder anderen Stelle auch bisherige Veröffentlichungen zu einzelnen Themen und Aspekten der jüdischen Schriftexegese. Für die Entscheidung, den Stoff zu einem Lehrbuch auszubauen, gab es verschiedene Gründe: Zum einen ist insbesondere in den letzten Jahren eine Reihe grundlegender neuer Fragen vor allem in der judaistischen Mediävistik in Einzelstudien bearbeitet worden, die es hier erstmals zu würdigen und zu bündeln galt; zum anderen sehen wir die Beschäftigung mit der jüdischen Bibelauslegung einer wachsenden Beliebtheit ausgesetzt, die allerdings auch dazu geführt hat, dass gerade in jüngster Zeit eine Reihe begeisterter, aber eben fachfremder Monographien oder Aufsätze zu diesem Thema erschienen ist, mit denen dann in anderen Fächern wie der Theologie oder der Geschichte gearbeitet wird, leider nicht immer im Sinne der Sache.
Ein Lehrbuch hat formalen Ansprüchen zu genügen, denn sein Aufbau soll verständlich, sein Inhalt möglichst umfassend, das Lesen dennoch nicht mühsam sein. Zwar konnte nicht ganz darauf verzichtet werden, den Stoff auch chronologisch zu sortieren, das |VIII|Hauptaugenmerk liegt allerdings auf der problemorientierten und daher systematisch gestrafften Darstellung exegetischer Grundfragen, wie sie zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich formuliert sein konnten. Die systematische Einteilung wird dabei zwischen dem zeitgeschichtlichen Kontext, den einzelnen Auslegerpersönlichkeiten sowie den jeweils neuen exegetischen Zugängen unterscheiden, um übergeordnete Entwicklungen mit Themen und jeweils aktuellen exegetischen Herausforderungen in Relation zu bringen. Insbesondere bei den Neuen Zugängen zeigt sich dabei immer wieder, wie einzelne Bereiche überlappen oder fließend ineinander übergehen und so manches Auslegungsbeispiel in mehreren Kategorien gut aufgehoben wäre. Die Darstellungen der hochmittelalterlichen Auslegungsperiode des 12. Jahrhunderts zwischen Raschi (R. Schelomo Jitzchaqi, st. 1105), seinem Enkel Raschbam (R. Schemu’el ben Meïr, st. ca. 1158), dem Spanier R. Avraham ibn Ezra (st. ca. 1165) und R. Eli‘ezer aus Beaugency (Mitte/Ende 12. Jahrhundert) weisen überdies exemplarisch die Dichte und die Schnelligkeit der exegetischen Entwicklungen auf, die sich im 12. Jahrhundert an einem Ort (Nordfrankreich) zu überstürzen scheinen.
Die Darlegung in den acht Hauptabschnitten (Kap. 2–9) ist wie folgt strukturiert: Nach einer einführenden Beschreibung in das sozio-kulturelle Umfeld der entsprechenden jüdischen Ausleger ( Voraussetzungen und Hintergründe ) sowie dem jeweils aktuellen Status quo der jüdischen Bibelauslegung geht es neben einer kurzen werk-biographischen Vorstellung einzelner Exegeten ( Persönlichkeiten ) vor allem darum, die Neuerungen der exegetischen Ansätze möglichst prägnant darzustellen und gegeneinander abzuheben ( Neue Zugänge ). Diese Darstellungen innovativer und für die Geschichte der jüdischen Exegese wichtiger Auslegungen werden durch Kommentarbeispiele unterfüttert. Dabei wurden solche Textauslegungen gewählt, die entweder maßgeblich auf die ihnen nachfolgende Exegese eingewirkt haben, oder gerade durch ihre quasi ‚nonkonformistische‘ Bibelauslegung von den Späteren ignoriert wurden, den Zeitgeist jedoch besonders gut einfangen. Dieser Teil ist auch für jene Nutzer und Nutzerinnen geeignet, die vielleicht nicht gleich eine exegetische Epoche in allen Einzelheiten erschließen möchten, sondern einfach einmal kursorisch lesend ‚schnuppern‘ wollen, was Bibelauslegung zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten einschließen konnte. Die Darstellung bemüht sich insgesamt darum, das Buch für Anfänger und fachfremde Benutzerinnen noch gut lesbar zu halten, gleichzeitig jedoch auch solche Leserinnen und Leser anzusprechen, die sich bereits mit einzelnen Auslegern beschäftigt, diese jedoch noch nicht unter der hier vorgelegten problemorientierten Erfassung wahrgenommen haben.
|IX|Vollständigkeit, soviel sei gleich vorweg gesagt, ist nicht einmal annähernd zu erreichen: Mit Blick auf die europäische Rezeptionsgeschichte wie auch hinsichtlich der intellektuellen Vernetzungen mit den christlichen Gelehrten in Westeuropa wird sich das vorliegende Lehrbuch vornehmlich auf die hebräischen Schriften und Kommentare konzentrieren und die judäo-arabischen Texte zur Grammatik und Bibelauslegung nur insoweit behandeln, als sie für das Verständnis der Hebräisch schreibenden Kommentatoren unabdingbar sind. Hinzu kommt, dass selbst für das hebräische Textmaterial erst allmählich kritische Editionen zur Verfügung stehen. Das judäo-arabische Schrifttum wird erst seit einigen Jahren wissenschaftlich verwertbar aufgearbeitet und ediert. Auch Übersetzungen stehen hier kaum zur Verfügung, die den Leserinnen und Lesern ein weiterführendes Quellenstudium ermöglichen würden. Die Auswahl – und dies gilt schon für das Hochmittelalter und die anschließende Renaissance-Zeit, aber weit mehr noch für die Zeit ab dem 18. Jahrhundert – bemisst sich vor allem daran, inwieweit ein Exponent jüdischer Bibelauslegung zum einen für seine Zeit repräsentativ ist und zum anderen auch in erster Linie als Bibelausleger – nicht als Philosoph, nicht als Kabbalist – wahrgenommen werden soll. Beispielsweise beschäftigt sich auch Maimonides in seinem More ha-Nevokhim ausführlich mit der Hebräischen Bibel. Ihn damit jedoch unter die Bibelausleger zu subsumieren, entspräche wohl kaum seinem eigenen Selbstverständnis, und dies gilt für den Großteil der Exponenten philosophischer oder kabbalistischer Bibelauslegung. So wird es also vor allem darum gehen, Bibelexegeten nicht nur allgemein als Repräsentanten ihrer Epoche, sondern vor allem als Repräsentanten unterschiedlichster Zugangsweisen zur Hebräischen Bibel wahrnehmen zu lernen. Dass das 19. und beginnende 20. Jahrhundert einen deutlich größeren Umfang aufweist, als die vorangehenden Kapitel, hat nicht nur damit zu tun, dass in dieser Zeit in Ost- wie in Westeuropa wichtige Entwicklungen durch eine ganze Reihe außergewöhnlicher Persönlichkeiten vorangetrieben wurden, die eine Vielzahl von unterschiedlichen exegetischen, philologischen und theologischen Entwürfen vorgelegt haben, sondern auch damit, dass unsere Wissenschaftslandschaft bis heute sowohl formal institutionell in ihrer akademischen Ausprägung als auch in inhaltlicher Hinsicht von dieser Zeit nachhaltig bestimmt wird.
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