Es war nämlich eine staunenswerte Tat, die römische Rechtsordnung, die von der Gründung der Stadt Rom bis zu den Tagen Unserer Herrschaft, also in einem Zeitraum von fast eintausendvierhundert Jahren, unter schweren inneren Auseinandersetzungen hin und her schwankte und dies auch auf die kaiserlichen Konstitutionen übertrug, in volle Harmonie zu überführen, so dass in ihr nichts mehr zu finden ist, was sich widerspricht (…). 15. Einander widersprechende Rechtssätze können aber in diesem Gesetzbuch keinen Raum beanspruchen, und man wird sie auch nicht finden, sobald man mit scharfem Verstand die Gründe für den Unterschied gehörig prüft.
18. (…) rechnen wir fest damit, dass späterhin neuartige Rechtsgeschäfte auftauchen werden, die noch nicht festgeknüpften rechtlichen Bindungen unterworfen sind. Wenn daher irgend etwas derartiges geschehen sollte, ist ein kaiserliches Rechtsmittel zu erbitten, weil Gott das hohe kaiserliche Amt zu dem Zweck über die menschlichen Verhältnisse gesetzt hat, dass es alles, was neu entsteht, verbessern, befrieden und angemessenen Formen und Regeln übergeben kann.
19. Diese Gesetze also sollt ihr verehren und befolgen, während alles ältere Recht zu verstummen hat.
2.1.3.Edikte der Magistrate
34. Amtsrecht
Die Magistrate (s. Rn. 22) hatten die Befugnis, im Rahmen ihrer Amtsgewalt Bekanntmachungen (sog. Edikte) zu publizieren. Für die Rechtsgestaltung waren vor allem die Edikte der Prätoren bedeutsam, zu deren Aufgaben Rechtsprechungsfunktionen zählten (s. Rn. 53). Die prätorischen Edikte enthielten vor allem die Ankündigung, welchen zivilrechtlichen Forderungen der Amtsinhaber Rechtsschutz gewähren werde. Damit bestimmten sie den Kreis zulässiger Ansprüche bzw. Klagen, für die auch Musterformeln angegeben wurden (Beispiel s. Rn. 54). Infolgedessen kam ihnen Rechtscharakter zu (ius honorarium: Amtsrecht).
35. Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Jeder Prätor gab zu Beginn seiner jährlichen Amtszeit ein neues Edikt heraus. Wenn dabei auch teilweise auf bewährte Regelungen aus früheren Edikten zurückgegriffen wurde, eröffnete die periodische Erneuerung doch die Gelegenheit, auf veränderte Umstände zu reagieren. Neue Ansprüche konnten aufgenommen und veraltete ausgeschieden werden. Bei der Abfassung des Edikts wurden die Prätoren, die regelmäßig keine juristischen Fachkenntnisse besaßen, von Rechtswissenschaftlern beraten. Das prätorische Amtsrecht ergänzte in der Regel die Gesetze und das Juristenrecht. Es konnte jedoch auch inhaltliche Veränderungen mit sich bringen:
Corpus iuris civilis, Digesten 1, 1, 7 (aus einem Werk des Juristen Pomponius):
1. Ius praetorium est, quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia propter utilitatem publicam.
1. Prätorisches Recht ist das Recht, das die Prätoren im öffentlichen Interesse eingeführt haben, um das Zivilrecht zu unterstützen, zu ergänzen oder zu verbessern.
36. Zivilrechtswissenschaft
Zunächst hatten Kenntnis und Interpretation des Rechts in der Hand der Priester gelegen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde die Rechtskunde allgemein zugänglich und es erschienen erste juristische Werke. Als wichtigste Phase der römischen Rechtswissenschaft (klassische Periode) gilt die Zeit des Prinzipats (1. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert n. Chr.). Thematisch stand dabei das Zivilrecht im Zentrum.
Begriffliches: Dies spiegelt auch die Bezeichnung „Corpus iuris civilis“ (s. Rn. 33) wider, die wörtlich übersetzt „Werk des Zivilrechts“ bedeutet. Der Ausdruck Zivilrecht kennzeichnet dabei denjenigen Rechtsbereich, bei dem es um Rechte von bzw. Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen geht. Damit erfolgt eine Abgrenzung zu dem Rechtsbereich, der den Staat betrifft (ius publicum: öffentliches Recht). An Stelle des Begriffs „Zivilrecht“ wird heute meist gleichbedeutend auch der Terminus Privatrecht verwendet. Im 19. Jahrhundert war zudem der Ausdruck Bürgerliches Recht gebräuchlich (vgl. etwa den Gesetzestitel „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ in Österreich 1812). Diese Bezeichnung stellt eine wörtliche Übersetzung von „ius civile“ dar (civis: „Bürger“). Allerdings wurde der Ausdruck „ius civile“ im römischen Recht auch noch in einem engen Sinn verwendet, wobei er nur das Recht derjenigen Personen bezeichnete, die das römische Bürgerrecht hatten (s. Rn. 44).
37. Literaturtypen
Verfasser juristischer Publikationen waren häufig in der Praxis tätig. Etliche hatten leitende Stellen in der Staatsverwaltung inne oder fungierten als Berater etwa des Herrschers oder der Prätoren. Ein wichtiges Betätigungsfeld bildete zudem die Erteilung von Gutachten im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten. Diese Gutachten wurden teilweise publiziert. Daneben verfassten Juristen vor allem Gesamtdarstellungen des Zivilrechts sowie Kommentare, die entweder einzelne Gesetze, das Edikt des Prätors oder Bücher anderer Juristen erläuterten. Auch in derartigen Werken stand die Lösung von – praktischen oder erdachten – Einzelfällen im Zentrum. Etwa seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. widmeten sich Rechtswissenschaftler zudem der Ausarbeitung von Anfängerlehrbüchern für den Rechtsunterricht.
Die Anfängerlehrbücher (sog. Institutionen) deuten auf eine Veränderung bei der Juristenausbildung hin. Zunächst hatte der Rechtsunterricht im privaten Rahmen stattgefunden, wobei Schüler die Gutachten ihres Lehrers anhörten und erörterten. Rechtsschulen gab es nur im Sinne der Anhängerschaft zu einem bestimmten Juristen und dessen Lehren. Demgegenüber wurden in der späten Kaiserzeit staatliche Rechtsschulen gegründet. Solche Schulen gab es vor allem in Berytos (Beirut) und Konstantinopel. Deren Professoren waren auch an der Ausarbeitung des Corpus iuris civilis beteiligt.
38. Juristenrecht
Den Juristenschriften kam eine besondere Bedeutung zu. Anders als die heutige rechtswissenschaftliche Literatur galten sie als Rechtsquelle. Rechtswissenschaftliche Werke wurden als geltendes Recht angesehen und konnten daher als Grundlage für die Entscheidung eines Rechtsstreits dienen. Die Juristen legten somit nicht nur bestehendes Recht aus, sondern ihnen wurde auch die Kompetenz zuerkannt, Rechtssätze zu schaffen. Ein solches Juristenrecht gründete sich auf die Autorität der Rechtswissenschaftler. Besondere Bedeutung erlangten die Ansichten derjenigen Juristen, die vom Kaiser die Befugnis erhalten hatten, Gutachten mit kaiserlicher Autorität zu erteilen (sog. ius respondendi: Recht zur Gutachtenerteilung). Dieses Privileg wurde als Ermächtigung zur Rechtsfortbildung interpretiert:
Corpus iuris civilis, Institutionen 1, 2, 8:
Responsa prudentium sunt sententiae et opiniones eorum, quibus permissum erat iura condere. (…) Quorum omnium sententiae et opiniones eam auctoritatem tenent, ut iudici recedere a responso eorum non liceat, ut est constitutum.
Gutachten der Rechtsgelehrten sind die Auffassungen und Meinungen der Juristen, denen gestattet war, das Recht fortzubilden. (…) Ihrer aller Auffassungen und Meinungen haben einen solchen Rang, dass der Richter, wie durch eine Konstitution bestimmt ist, von ihren Gutachten nicht abweichen darf.
Der Rechtsquellencharakter der Juristenschriften führte zunehmend zu Rechtsunsicherheiten. Dazu trug neben dem Fehlen einer amtlichen Überlieferung auch der Umstand bei, dass die einzelnen Juristen in ihren Werken teilweise unterschiedliche Ansichten zu derselben Rechtsfrage äußerten. Im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. erließen die Kaiser daher Gesetze, wonach nur noch bestimmte rechtswissenschaftliche Publikationen von den Gerichten berücksichtigt werden durften (sog. Zitiergesetze). Außerdem wurde festgelegt, dass bei Meinungsverschiedenheiten die Ansicht der Mehrheit ausschlaggebend sein sollte.
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