Ab Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. verloren die Juristenschriften an Bedeutung, da Rechtsfortbildungen seitdem primär durch Entscheidungen der Kaiser erfolgten. Außerdem ging in der Rechtswissenschaft, wie in den kaiserlichen Rechtsetzungen, zunehmend das Verständnis für Begrifflichkeiten und Differenzierungen der klassischen Zeit verloren und Publikationen waren durch vulgarrechtliche Tendenzen (s. Rn. 26) gekennzeichnet.
39. Überlieferung
Die rechtswissenschaftlichen Werke der römischen Juristen sind nur bruchstückhaft überliefert. Zentrale Quelle für die heutige Kenntnis sind die Digesten, welche Auszüge aus Juristenschriften enthalten. Allerdings entsprechen die Texte nicht immer dem Originalwortlaut, wie die Beschreibung der Arbeitsweise der Kompilatoren (s. Rn. 33) deutlich macht:
Corpus iuris civilis, Digesten, Constitutio Tanta (Konstitution Justinians vom 16. Dezember 533):
1. (…) Postea vero maximum opus adgredientes ipsa vetustatis studiosissima opera iam paene confusa et dissoluta eidem viro excelso permisimus tam colligere quam certo moderamini tradere. Sed cum omnia percontabamur, a praefato viro excelso suggestum est duo paene milia librorum esse conscripta et plus quam trecenties decem milia versuum a veteribus effusa, quae necesse esset omnia et legere et perscrutari et ex his si quid optimum fuisset eligere. (…)
10. (…) Hoc tantummodo a nobis effecto, ut, si quid in legibus eorum vel supervacuum vel inperfectum vel minus idoneum visum est, vel adiectionem vel deminutionem necessariam accipiat et rectissimis tradatur regulis.
1. Dann haben Wir das eigentlich große Werk in Angriff genommen und demselben unvergleichlichen Mann [Tribonian, Vorsitzender der Gesetzgebungskommission] die Aufgabe anvertraut, auch die höchst gelehrten rechtswissenschaftlichen Werke der Vergangenheit, die schon fast ganz in Wirrnis und Auflösung geraten waren, zu sammeln und einer bestimmten Ordnung zu unterwerfen. Als wir uns aber nach allen Einzelheiten erkundigten, bedeutete uns der erwähnte unvergleichliche Mann, dass die Rechtsliteratur fast zweitausend Bücher umfasse und von den alten Juristen insgesamt mehr als drei Millionen Zeilen verfasst worden seien; es sei vonnöten, diese alle zu lesen und auch zu prüfen und aus ihnen auszuwählen, was sich als das Beste erweise.
10. Lediglich eines ist von uns bewirkt worden: Erschien in ihren Rechtssätzen [der Rechtsgelehrten] etwas überflüssig oder unvollkommen oder weniger brauchbar, so wurden diese in der erforderlichen Weise ergänzt oder gekürzt und in die sachgerechteste Form gebracht.
Die Digesten geben zu Beginn jeder Passage den Namen des Autors sowie den Titel desjenigen Werks an, aus dem der Text entnommen wurde. Der größte Teil stammt aus Publikationen von den Juristen Ulpian und Paulus. Beide waren gegen Ende der klassischen Periode (3. Jahrhundert n. Chr.) bestrebt, eine Übersicht über den umfangreichen Rechtsstoff zu geben.
Nur ganz wenige Werke sind außerhalb des Corpus iuris civilis überliefert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Justinian den Digesten Gesetzeskraft verlieh und einen Rückgriff auf die Quellen und somit auch auf die Originale der Juristenschriften untersagte (s. Rn. 33). Diese verloren infolgedessen ihre praktische Bedeutung. Daher wurden keine Abschriften mehr angefertigt und noch existierende Bücher teilweise mit anderen Texten überschrieben. Im 19. Jahrhundert gelang es, unter einem anderen Text das Anfängerlehrbuch eines Juristen namens Gaius sichtbar werden zu lassen (Institutionen des Gaius, Beispiel s. Rn. 54). Dieses Buch ist von dem gleichnamigen Teil des Corpus iuris civilis zu unterscheiden (der Titel beruhte jeweils auf dem Begriff „institutio“: Unterricht). Die Institutionen des Gaius enthalten wichtige Informationen über ältere Rechtszustände, die im Corpus iuris civilis nicht mehr erwähnt werden, weil sie im 6. Jahrhundert n. Chr. als überholt galten.
2.2.Rechtsordnung
2.2.1.Grundzüge
40. Prozessuale Perspektive
Im Zentrum der römischen Rechtsordnung stand die gerichtliche Rechtsdurchsetzung. Schon im Zwölftafelgesetz bildete das Gerichtsverfahren ein wichtiges Thema. Die erste Tafel verpflichtete vermutlich gleich zu Beginn jede Person, vor Gericht zu erscheinen, wenn gegen sie eine Klage erhoben wurde. Auch in späteren Zeiten war insbesondere das Privatrecht durch eine prozessuale Perspektive geprägt. Die Edikte der Prätoren (s. Rn. 34) dokumentieren, dass keine strikte Trennung zwischen dem materiellen Zivilrecht und dem Prozessrecht erfolgte. Vielmehr erfuhren materiell-rechtliche Ansprüche in den Edikten eine Regelung unter dem Gesichtspunkt der Klagemöglichkeit.
41. Tendenzen
Der prozessualen Sichtweise entsprach es, dass in den Juristenschriften die Lösung von Einzelfällen im Vordergrund stand. Bei deren Beurteilungen lassen sich gewisse leitende Tendenzen ausmachen, die von den römischen Juristen allerdings nicht in Gestalt von Grundsätzen formuliert wurden. Als eine Tendenz kann festgehalten werden, dass Privatpersonen viel Freiraum bei der Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen erhielten. Allerdings kam dieser Freiraum nur einer sehr kleinen Personengruppe zu, nämlich allein freien Männern, welche die Stellung eines Familienoberhaupts (pater familias) hatten. Außerdem schränkten Konstitutionen der späten Kaiserzeit die Gestaltungsmöglichkeiten erheblich ein.
2.2.2.Private Rechtsgestaltung
2.2.2.1.Gestaltungsfähige Personen
42. Sklaven
Etliche Personengruppen konnten ihre Rechtsbeziehungen gar nicht oder nicht vollständig selbst regeln. Sklaven standen im Eigentum ihres Herrn. Sie wurden wie Sachen behandelt. Alles, was ein Sklave erwarb, ging – wie heute bei der Stellvertretung – automatisch in das Eigentum seines Herrn über.
43. Kinder und Frauen
Eheliche Kinder waren in ihren Verfügungen durch die Gewalt ihres Vaters (patria potestas) beschränkt. Diese hatte zur Folge, dass Kinder nicht für sich selbst Rechte und Pflichten begründen konnten. Anders als heute endete eine solche Geschäftsunfähigkeit nicht mit einem bestimmten Alter, sondern dauerte grundsätzlich so lange an, wie der Vater lebte.
Auch Frauen konnten nicht selbständig ihre Rechtsbeziehungen gestalten. Sie standen in der Gewalt entweder ihres Vaters oder ihres Ehemanns. Unverheiratete Frauen, deren Vater nicht mehr lebte, benötigten für den Abschluss von Rechtsgeschäften die Zustimmung eines Vormunds. Als Begründung wurde der Schutz vor nachteiligen Geschäften angeführt. Die Zustimmung scheint allerdings im Laufe der Zeit eine reine Formsache geworden zu sein, die sogar erzwungen werden konnte.
44. Bedeutung des Bürgerrechts
Für die Rechtsstellung einer Person spielte zum Teil auch das Bürgerrecht eine Rolle. So gab es Rechtsregeln und Rechtsgeschäfte, die nur für Römer galten (ius civile, wobei der Begriff „civile“ bzw. „civis“ hier eng zu verstehen ist und sich nur auf Inhaber des römischen Bürgerrechts bezieht, s. Rn. 36). Nichtrömer (peregrini: Fremde) wurden grundsätzlich nach dem Recht ihres Herkunftslandes beurteilt (s. Rn. 32). Für Rechtsbeziehungen zwischen Römern und Fremden war das „Völkerrecht“ (ius gentium) maßgebend. Darunter verstand man Regeln, die für alle Menschen – unabhängig von ihrem Bürgerrecht – galten.
45. Formalismus der Frühzeit
Zu Beginn der Republik gab es nur eine kleine Anzahl von Rechtsgeschäften, die für eine Übertragung von Rechten oder für Leistungsversprechen zur Verfügung standen. Diese Geschäftsarten waren nur römischen Bürgern zugänglich und von einem strengen Formalismus geprägt. Für einen wirksamen Abschluss mussten bestimmte Worte oder symbolische Handlungen verwendet werden. Ein Beispiel dafür bildet die Stipulation. Dabei handelte es sich um ein mündliches Versprechen unter Anwesenden, bei dem bestimmte Begriffe gebraucht werden mussten. In inhaltlicher Hinsicht bestand dagegen Gestaltungsfreiheit. Voraussetzung war lediglich eine genaue Beschreibung der zu erbringenden Leistung.
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