fehlendes Nachfragen Wortschatzauffällige Kinder fragen insgesamt seltener nach, wenn sie auf eine lexikalische Lücke stoßen. Dies kann zum einen Ausdruck eines unzureichenden Erkennens der eigenen lexikalischen Lücken sein. Manche Kinder sind sich dem Unterschied zwischen „komplett verstehen“ und „nur halb verstehen“ gar nicht bewusst (Amorosa / Noterdame 2003).
„Ihnen fehlt meist auch der aktive und kreative Umgang mit Sprache. Sie fragen kaum nach, sie äußern weder Korrekturen noch bilden sie neue Wortformen. Die Kinder vermitteln sogar oft den Eindruck, als falle ihnen gar nicht auf, dass sie vieles nicht benennen können […]“ (Füssenich 2002, 86).
Bei anderen Kindern spiegelt diese Passivität bereits einen ersten Rückzug aus kommunikativen Situationen aufgrund wiederholter Frustrationserfahrungen wider (Dannenbauer 2001a). In jedem Fall zeigen Kinder mit lexikalischen Störungen gegenüber sprachunauffälligen Kindern eine geringere „Neugier“ für neue Wörter. So machen sie von einem der wichtigsten Antriebsmotoren der physiologischen Entwicklung, dem Fragen, nur unzureichend Gebrauch (Motsch et al. 2016; Brinton / Fujiki 1982; Hargrove et al. 1988).
Einige Kinder hatten zu wenige Gelegenheiten, die Dinge ihrer Umgebung umfassend und mit allen Sinnen zu erfahren. Fehlen konkrete, multisensorische Erfahrungen, können keine facettenreichen Konzepte aufgebaut werden, Wörter bleiben „bedeutungsleere Hülsen“ (Motsch et al. 2016, 38).
defizitärer Sprachinput Mittlerweile belegt eine ganze Reihe empirischer Untersuchungen deutliche Zusammenhänge zwischen der sozialen Schichtzugehörigkeit und der Quantität sowie der Qualität des elterlichen Sprachangebots. Eltern aus bildungsfernen Schichten sprechen weniger mit ihren Kindern und verwenden dabei weniger unterschiedliche Wörter als Eltern mit einem höheren Bildungsniveau. Zudem bevorzugen Eltern aus niedrigen sozialen Schichten einen eher direktiven Kommunikationsstil (Hart / Risley 1995; Hoff-Ginsberg 1991, 1998; Rowe 2008; Clark 2009). Diese Unterschiede schlagen sich in der Wortschatzentwicklung der Kinder nieder. So bestehen deutliche Zusammenhänge zwischen Quantität und Qualität des elterlichen Sprachangebots und dem Umfang des kindlichen Wortschatzes im Kleinkind-, Vorschul- und Schulalter (Hart / Risley 1995; Rowe 2008; Clark 2009). Dennoch stellen allein auf ungünstigen Umgebungsbedingungen basierende Wortschatzauffälligkeiten keine Indikation zur krankenkassenfinanzierten Sprachtherapie dar (AWMF-Leitlinie 2011). Vielmehr soll ein solcher „Spracherfahrungsmangel“ (Glück 2007, 160) über das Angebot einer allgemeinen Sprachförderung durch Erzieher und Lehrer ausgeglichen werden. Ungünstige Input-Bedingungen können jedoch verstärkend und aufrechterhaltend auf eine bestehende spezifische Störung der Sprachentwicklung wirken (AWMF-Leitlinie 2011).
defizitäre MappingProzesse Empirische Untersuchungen haben sich der Frage gewidmet, ob bei spracherwerbsgestörten Kindern bereits die Aufnahme von neuen Wörtern in das mentale Lexikon beeinträchtigt ist. Hierzu wurden Experimente durchgeführt, bei denen sowohl spracherwerbsgestörte als auch sprachunauffällige Kinder neue Wortformen (in der Regel Pseudowörter) zu neuen Referenten (in der Regel Phantasieobjekten) lernen sollten (Kan / Windsor 2010). Es zeigte sich, dass spracherwerbsgestörte Kinder insgesamt deutlich mehr Wiederholungen eines Wortes benötigten, um eine erste lexikalische Repräsentation aufzubauen. So waren mindestens zehn Wiederholungen eines Wortes notwendig, damit die SES-Kinder dieses überhaupt wiedererkennen und den Referenten zeigen konnten (Rice et al. 1994; Kier nan / Gray 1998). Von grundlegenden Wortlernstrategien scheinen Kinder mit lexikalischen Störungen dabei in vergleichbarem Maße Gebrauch zu machen wie sprachunauffällige Kinder (Rothweiler 2001; Kauschke / Rothweiler 2007). Problematisch scheint jedoch vor allem die langfristige Speicherung neuer Einträge im mentalen Lexikon zu sein (slow mapping). Besondere Schwierigkeiten bereiten wortschatzauffälligen Kindern dabei die Einspeicherung und Ausdifferenzierung der phonologischen Wortformen sowie das Benennen der neu gelernten Wörter (Kiernan / Gray 1998; Gray 2003; Nash / Donaldson 2005). Neben dem erhöhten Aufwand, um einen ersten Eintrag für die Produktion zu etablieren, wird auch über ein häufiges „Vergessen“ bereits gelernter Wörter berichtet (Riches et al. 2005).
Defizite der phonologischen Schleife Die Schwierigkeit, stabile und differenzierte phonologische Repräsentationen auszubilden und dauerhaft abzuspeichern, sollte vor dem Hintergrund möglicher Einschränkungen der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses gesehen werden. Studien zeigen signifikante Korrelationen zwischen der Kapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses und der Fähigkeit, neue Wörter zu lernen (Adams / Gathercole 1995; Gathercole et al. 1997). Als Gruppe erreichen spracherwerbsgestörte Kinder signifikant schlechtere Leistungen beim Nachsprechen von Pseudowörtern, das in der Regel als Maß für die Kapazität der phonologischen Schleife herangezogen wird, gegenüber sprachunauffälligen Kindern (Gathercole / Baddeley 1990, 2003). Es wird daher diskutiert, ob eine reduzierte Arbeitsgedächtnis-Kapazität als zentraler diagnostischer Marker oder sogar entscheidender Verursachungsfaktor einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung angenommen werden sollte (Kany / Schöler 2014; Leonard et al. 2007). In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit lexikalisch gestörter Kinder auch Einschränkungen in der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses zeigt. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten v. a. bei der phonologischen Analyse und Einspeicherung längerer (drei Silben und mehr) sowie phonologisch komplexer Wörter, die ein höheres Maß an Verarbeitungskapazität beanspruchen (Ulrich 2012).
Defizite der phonologischen Bewusstheit Während kleine Kinder zunächst die Gliederung eines Wortes nach Silben bevorzugen, wird im späten Vorschulalter die Segmentierung von Wortformen nach Onset und Reim und im Schulalter schließlich nach einzelnen Phonemen möglich (Mayer 2013a, 2016a). Dies erleichtert die Ausdifferenzierung der phonologischen Wortformen im mentalen Lexikon sowie ihren Abgleich mit anderen, ähnlich klingenden Wortformen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuhören. Verzögerungen in der Entwicklung phonologischer Bewusstheit erschweren somit die immer feinere Durchgliederung der phonologischen Wortformen in ihre lautlichen Bestandteile sowie die Vernetzung von phonologischen Repräsentationen innerhalb des mentalen Lexikons.
Zugriffsgeschwindigkeit auf phonologische Repräsentationen Insbesondere im Kontext von kindlichen Wortfindungsstörungen kommt der Benennungsgeschwindigkeit, also der Fähigkeit, nach Vorgabe eines visuellen Reizes möglichst schnell auf eine gespeicherte phonologische Repräsentation zuzugreifen und die entsprechende Wortform zu artikulieren (Mayer 2016b), besondere Bedeutung bei. Glück (2010) nimmt bei wortfindungsgestörten Kindern eine unzureichende Automatisierung der Abrufpfade zu den Wörtern an, die sich in erhöhten Benennzeiten zeigt (Beier / Siegmüller 2013).
unzureichende Elaboration von Wortform und bedeutung Wie bereits ausgeführt, scheint bei vielen wortschatzauffälligen Kindern die Ausdifferenzierung und Vernetzung sowie die Einbindung von phonologischen Wortformen in das mentale Lexikon (kurz: die phonologische „Elaboration“) betroffen zu sein. Eine ungenaue phonologische Repräsentation eines Wortes reicht dann möglicherweise zum Verstehen des Wortes aus, nicht aber für die Aktivierung im Wortproduktionsprozess, so dass Abrufstörungen resultieren können ( Kap. 2.2.2). Zudem erschwert die unzureichende Differenzierung phonologischer Wortformen die Entscheidung für die Zielform, wenn mehrere phonologisch ähnliche Formen gleichzeitig aktiviert werden ( Kap. 1). So konnte für einige wortfindungsgestörte Kinder gezeigt werden, dass sie spezifische Schwierigkeiten damit haben, die korrekte Wortform aus einer Auswahl phonologisch ähnlicher Kandidaten zu selektieren und die nicht-zutreffenden Kandidaten im Aktivierungswettstreit zu ignorieren (German / Newman 2004; Mainela-Arnold et al. 2008, 2010; Leonard 2014; Motsch et al. 2016).
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