2.2 Erscheinungsbild
2.2.1 Mögliche Symptome einer lexikalischen Störung
Im Gegensatz zu Auffälligkeiten der Aussprache oder der Grammatik sind Defizite im Bereich des Wortschatzes für Eltern, Erzieher oder Lehrer oftmals schwieriger zu erkennen. Dennoch weist eine Reihe von Auffälligkeiten in der Spontansprache, beim Benennen von Bildern sowie im Verhalten der Kinder auf mögliche lexikalische Defizite hin.
Eine ausführliche Aufstellung möglicher Symptome findet sich im SemLexKrit von
Glück, C. W. (2011a): Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige: WWT 6-10. 2. Aufl. Elsevier, München und bei
Motsch, H.-J., Marks, D.-K., Ulrich, T. (2016): Wortschatzsammler. Evidenzbasierte Strategietherapie lexikalischer Störungen im Kindesalter. Ernst Reinhardt, München / Basel.
unspezifische Wörter So verwenden diese Kinder vielfach allgemeine, unspezifische Wörter wie „Dings, so was, so ein Teil“. Als Verben werden „machen, tun“ in vielfältigen Kontexten als semantisch unspezifizierte Passe-par-tout-Wörter gebraucht. Aus diesem Grund werden sie auch als GAP-Verben (general all purpose) bezeichnet (Conti-Ramsden / Jones 1997). Vielfach helfen lexikalisch gestörte Kinder sich auch mit Umschreibungen, wenn ihnen die Wortform zu einem bestimmten lexikalischen Eintrag nicht zur Verfügung steht.
Umschreibungen: „Ich hab auch mal so was geesst. Das hat hier so Blätter, die sind pieksig und in der Mitte ist das gelb und schmeckt so süß.“ (= Ananas)
Substitutionen Beim Benennen werden statt des korrekten Lexems oftmals semantisch oder phonologisch verwandte Ersetzungen (= Substitutionen) verwendet (McGregor 1997; Lahey / Edwards 1999).
Während bei der semantischen Substitution Ziel- und Ersatzwort semantisch verwandt sind, besteht bei der phonologischen Substitution eine lautliche Ähnlichkeit zwischen Ziel- und Ersatzwort.
Semantische Substitutionen:
■ Schmetterling > Fliege
■ Schmetterling > Tier
Phonologische Substitutionen:
■ Schmetterling > Schmetterlini
■ reparieren > patarieren
nonverbale Kommunikationsmittel Zur Kompensation von lexikalischen Lücken oder Abrufschwierigkeiten weichen einige wortschatzauffällige Kinder stärker auf nonverbale Kommunikationsmittel aus (z. B. Zeigen statt Benennen, vermehrter Einsatz von Mimik und Gestik). In Gesprächen versuchen sie, ihr Nicht-Verstehen durch bestimmte Kommunikationsstrategien zu verdecken (z. B. auf alle Fragen mit „Ja“ antworten, ganzheitliche Antworten nach dem Muster „Was hat dir besonders gut gefallen?“ – „Alles.“, Amorosa / Noterdame 2003).
Ausweichverhalten Einige Kinder versuchen, kommunikativen Anforderungen grundsätzlich aus dem Weg zu gehen, ziehen sich aus Gesprächen zurück oder versuchen, Themenwechsel zu initiieren. Letztere stellen vor allem für Kinder mit Abrufstörungen oftmals eine Möglichkeit dar, auf ein bestimmtes Thema, eine „Insel der Sicherheit“ auszuweichen, wo sie sich lexikalisch sicher fühlen (Glück / Spreer 2015).
Themenwechsel:
■ Therapeutin: „Ein Rhönrad – was ist denn das genau für ein Sportgerät?“
■ Noah: „Irgend so ein Teil. So ein ganz großes, so ein ein für so zu machen so zum Drehen ... ähm ... Soll ich mal was von Star Wars erzählen?“
Veränderungen der Äußerungsstruktur Wie in diesem Beispiel deutlich wird, finden sich in der Spontansprache von Kindern mit lexikalischen Defiziten häufiger Satzabbrüche, -umstellungen oder Wiederholungen. Schwierigkeiten beim Zugriff auf Wörter zeigen sich zudem über häufige Pausen, die oftmals mithilfe von Floskeln oder Füllwörtern (z. B. „ähm, warte mal, also“) überbrückt werden.
Floskeln und Füllwörter: „Das ähm das ist ein warte mal das ist ein also äh so ein zum Plantschen.“ (= Schwimmflügel)
MetaKommentare Besonders markante Kennzeichen einer Zugriffs- oder Abrufstörung ( Kap. 2.2.2) sind die sogenannten Meta-Kommentare (Glück 2010), mit denen Kinder über ihre eigenen Schwierigkeiten reflektieren.
Meta-Kommentare:
■ „Das müsste ich doch eigentlich wissen, weil ich das schon ganz oft gesehen habe.“
■ „Ach, das wusste ich doch mal.“
■ „Oh Mann, ich habs schon wieder vergessen.“
■ „Immer vergess ich alles.“
2.2.2 Störungsschwerpunkte und Subgruppen lexikalischer Störungen
Während Störungen des Wortschatzerwerbs längere Zeit pauschal als „eingeschränkter Wortschatzumfang“ bezeichnet wurden, gibt es seit einigen Jahren verstärkt Bemühungen, das sehr heterogene Erscheinungsbild lexikalisch gestörter Kinder differenzierter zu beschreiben und verschiedene Störungsschwerpunkte oder Subgruppen zu differenzieren (z. B. Kolfenbach 2002; Rupp 2008, 2013; Siegmüller / Kauschke 2006; Kauschke / Rothweiler 2007; Glück 2011a; Motsch et al. 2016). Die Grundannahme ist, dass die Identifizierung des zugrundeliegenden Störungsschwerpunktes die Ableitung von spezifischen Therapiezielen und -methoden ermöglicht, die wiederum notwendige Grundlage für effektive Interventionsmaßnahmen seien (Rupp 2008, 2013). Auch wenn der empirische Nachweis eines klaren Vorteils von modellorientiertem, störungsspezifischem therapeutischen Vorgehen nach wie vor aussteht ( Kap. 4), erscheint es sinnvoll, bei der Beschreibung lexikalisch gestörter Kinder so präzise wie möglich die zugrundeliegende Schwierigkeit zu charakterisieren. Bedauerlicherweise haben sich sämtliche soeben genannte Autoren für unterschiedliche Einteilungen entschieden, was zu einer verwirrenden Vielfalt an Terminologien geführt hat.
Eine ausfiührliche Beschreibung verschiedener Klassifikationen und Einteilungen findet sich bei
Rupp, S. (2013): Semantisch-lexikalische Störungen bei Kindern. Sprachentwicklung: Blickrichtung Wortschatz. Springer, Berlin / Heidelberg.
Im Folgenden werden die auf den modellorientierten Vorschlägen von Rupp (2008, 2013) basierenden Subgruppen nach Motsch et al. (2016) vorgestellt.
quantitative lexikalische Störungen Bei quantitativen Störungen ist die Anzahl der lexikalischen Einträge eingeschränkt: Das Kind hat bisher zu wenige Wörter gelernt, also zu wenige Mappings zwischen Wortform und Referenten hergestellt. Quantitative Störungen stellen also das Störungsbild des „eingeschränkten Wortschatzes“ im eigentlichen Sinne dar. Sie zeigen sich in Schwierigkeiten sowohl beim Benennen als auch beim Verstehen von Wörtern ( Kap. 3). Betroffene Kinder verwenden häufig unspezifische Wörter, Umschreibungen oder weichen auf nonverbale Kommunikationsstrategien aus (Rupp 2008, 2013; Ulrich 2012; Motsch et al. 2016).
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