Rudolf Kerschreiter/Dieter Frey
Funktion
Funktion (engl. function, lat. functio), ›Tätigkeit‹, ›Verrichtung‹, die Beschreibung einer Leistung, die ein Teil in einem Ganzen, aber auch das Ganze für ein Teil erfüllt, bzw. die Beschreibung einer Abhängigkeit, in der die Variable einer Gleichung oder Ungleichung von einer anderen Variablen steht. Der erste Funktionsbegriff ist teleologisch und betont eine Hierarchie , der Zweite ist mathematisch und betont eine Interdependenz .
Man unterscheidet Funktionenund Dysfunktionen. Funktionen dienen der Hierarchie oder Interdependenz, Dysfunktionen sind Störungen der Hierarchie bzw. der Interdependenz. Dysfunktionen können ihrerseits eine funktionale Rolle spielen, wenn sie dazu führen, dass die Hierarchie oder die Interdependenz gegen die Störung verteidigt und so gestärkt werden. Diese Verteidigung wiederum kann dysfunktional werden, wenn sie die Beweglichkeit der Hierarchie oder der Interdependenz angesichts geänderter Umstände einschränkt.
Man unterscheidet überdies manifesteund latenteFunktionen und Dysfunktionen. Manifeste Funktionen und Dysfunktionen sind allen oder einigen Beteiligten bekannt, möglicherweise auch von ihnen intendiert, latente Funktionen und Dysfunktionen wirken hinter ihrem Rücken, obwohl es auch dann den einen oder anderen Beobachter geben muss, dem sie auffallen, denn andernfalls könnten sie nicht beschrieben werden. In Frage steht, ob manifeste oder latente Funktionen und Dysfunktionen zuverlässiger sind. Stärkt oder schwächt ihre Reflexion die Funktion oder Dysfunktion? Beides ist möglich, da die Reflexion die Engführung fördert, aber auch zu Ausweichverhalten einlädt. In beiden Fällen stellt sich die Frage, wer warum die Engführung fördert und wer sich warum zu Ausweichverhalten eingeladen fühlt.
Die funktionale Analyse bewegt sich in diesen Unterscheidungen von Hierarchie und Interdependenz, Funktion und Dysfunktion, Manifestation und Latenz, Beobachter und Akteur. Die unvermeidbare Verwicklung der Beobachtung in ihren Gegenstand führt zu Konfusionen, die in der Anthropologie unter dem Gesichtspunkt des Verstehens und in der Soziologie unter dem Gesichtspunkt der Kritik zu kontrollieren versucht werden. Verstehen heißt, dass die funktionale Analyse den Gegenstand nicht ändern darf, sondern schützen muss, Kritik heißt, dass sie ihn ändern muss, weil man andernfalls mit ihm einverstanden wäre. Die Ideologie beider Positionen ist nur durch eine weitere Ideologie zu korrigieren, die auf der freien Beweglichkeit der Relationen von Teil und Ganzem bzw. der Variablen besteht und sich so des Modernismus verdächtig macht.
Kingsley Davis hat die Position vertreten, dass die funktionale Analyse in der Soziologie keine Methode unter anderen ist, die ihre Stärken und Schwächen hätte, sondern dass sie mit dieser Disziplin identisch und dementsprechend heterogen ist. Die funktionale Analyse ist die wissenschaftliche Analyse schlechthin, insofern sie Relationen zwischen Phänomenen herstellt und so das eine aus dem anderen erklärt. Ihre Funktion ist in der Soziologie seit Emile Durkheim die Abwehr reduktionistischer Positionen, die soziale Phänomene auf psychologische oder biologische Determinanten reduzieren, sowie die Abwehr von Positionen, die sich mit der Datensammlung und Beschreibung begnügen, ohne Relationen zu unterstellen und zu testen. Abgelehnt wird der Funktionalismus vor allem von Positionen, die ein Phänomen aus sich heraus verstehen und würdigen wollen, oder auch von Positionen, die sich aus Werturteilen heraus weigern, funktionale Beiträge unerwünschter Phänomene (Armut, Reichtum, Ungleichheit, Korruption, Kriminalität, Krieg) zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen.
Teleologie und Mathematik
Der teleologischeFunktionsbegriff leitet sich von der ›causa finalis‹, der Zweckursache, im aristotelischen Kausalitätsschema ab. Er verweist damit auf ein Ganzes, bei den alten Griechen den Kosmos, die Polis und die Psyche, aus dem heraus der Platz (telos) und damit die Leistung eines Teils zu erklären sind. Eine teleologische Funktion kann entweder perfekt erfüllt oder korrupt verfehlt werden. Sie[138] kann überdies von einer ›Regierung‹ in den Funktionszusammenhang wieder eingeführt werden, um ihre Leistung zu bestätigen oder ihr Versagen zu korrigieren. Umgekehrt kann von der ›Kritik‹ angemahnt werden, dass das Ganze seine Aufgabe nicht erfüllt, bestimmte Teile in ihrer Leistungserbringung zu unterstützen.
Der mathematischeFunktionsbegriff beschreibt seit René Descartes, Gottfried Leibniz und Leonhard Euler eine Abhängigkeit zwischen Variablen
y = f(x)
derart, dass mithilfe der Funktion »f« die Variable »y« bestimmt werden kann, wenn »x« bekannt ist. Man spricht auch von einem Input »x« in eine Funktion »f(x)«, um den Output »y« errechnen zu können. Solche Funktionen sind die Grundlage eines Kalküls.
Im Gegensatz zum teleologischen Funktionsbegriff der Antike, der ontologisch konzipiert ist, das heißt Feststellungen über das Wesen des Seienden trifft (nämlich: Teil eines Ganzen zu sein), ist der mathematische Funktionsbegriff modern, indem er nach der Variation von Variablen in einem Zusammenhang von Abhängigkeiten fragt, die vorab keinen Einschränkungen unterworfen sind, sondern es ermöglichen, nach faktischen Einschränkungen zu suchen und sie unter Umständen aufzulösen. Beide Funktionsbegriffe sind heuristisch fruchtbar, doch der antike Begriff ist auf eine endliche Menge natürlicher Einheiten beschränkt, während der moderne Begriff sich auf eine unendliche Menge auch technisch erweiterbarer Möglichkeiten bezieht.
Soziologie
Für die theoretische und empirische Arbeit der Soziologie faszinierend ist dabei weniger die Frage nach »x« und »y« als vielmehr die Frage nach »f«. Wer oder was stellt die funktionale Verknüpfung »f« zwischen »x« und »y« her? Worin besteht sie? Wie häufig muss sie vorkommen, um als Verknüpfung aufzufallen? Wie zuverlässig ist sie? Muss man von ihr wissen, damit sie wirkt, oder ist es hilfreich, wenn man nichts von ihr weiß? Und wer muss etwas wissen und wer sollte nichts wissen? Man kann hier Natur und Technik, Akteur und System, Intention und Fatalität, Kultur und Zufall als Formen des Ausbuchstabierens von f unterscheiden, ohne diese Fragen je abschließend beantworten zu können.
Vor allem Robert K. Merton und Niklas Luhmann dekonstruieren den Funktionsbegriff im Hinblick auf seine teleologischen Komponenten und plädieren für eine Reduktion auf den mathematischen Funktionsbegriff.
Mertonkritisiert die bisherigen drei Postulate des Funktionalismus, die darauf hinauslaufen, eine funktionale Einheit der Gesellschaft, eine positive Funktionalität aller sozialen Phänomene und die funktionale Unersetzbarkeit jedes einzelnen Phänomens anzunehmen, und plädiert stattdessen für einen strengen Äquivalenzfunktionalismus, der für jedes soziale Phänomen von einem Variationsspielraum zwischen gesellschaftlichen Bedürfnis sen und gesellschaftlichen Leistungen ausgeht. Merton schlägt vor, zwischen manifesten Funktionen, die Akteuren bekannt sind und von ihnen intendiert werden, und latenten Funktionen, die nur der Beobachter durchschaut, zu unterscheiden, lässt dabei allerdings die Fragen offen, wie Akteure etwas intendieren können, ohne die Funktion zu gefährden, und woraus Beobachter schließen können, dass den Akteuren etwas nicht bewusst ist.
Und Luhmannkritisiert die kausalwissenschaftliche Einschränkung eines Funktionalismus, der die Funktion, also Wirkung, eines Phänomens zu dessen Ursache erklärt. Diesem Vorgehen widerspricht, dass die kausale Erklärung in der Moderne einen zeitlichen Richtungssinn erhalten hat, den sie in der eher zirkulären Kosmologie der Antike nicht hatte. Die ›causa finalis‹ gerät damit in die Schwierigkeit, das Vorhergehende aus dem Nachfolgenden zu erklären. Überdies musste man in der Moderne mit dem Abschied von der Ontologie einsehen, dass die Anzahl möglicher Ursachen und Wirkungen unendlich ist. Damit wird die funktionalistische Behauptung invarianter Bedürfnisse, Leistungen und Reziprozitäten problematisch. Die Invarianz kann nicht mehr als die des Forschungsgegenstands behauptet werden, sondern fällt auf den Beobachter und dessen ideologische Voreinstellung zurück.
Читать дальше