Thomas Hinz
Explorationsstudie
Explorationsstudien (engl. exploratory study) sind einerseits relevant, wenn das existierende Wissen (über ein Feld, eine Zielgruppe, ein Thema, einen Zusammenhang) nicht ausreicht, Hypothese n zu formulieren und zu testen und standardisierte Instrumente (z. B. Fragebogen mit einer begrenzten Anzahl vorgegebener Antwortmöglichkeiten) zu verwenden. Eine Explorationsstudie stellt dann eine Vorstudieeiner solchen Studie mit dem Ziel der Entwicklung von Hypothesen und Methoden dar. Explorationsstudien stellen anderseits einen eigenständigen Forschungsansatzdar, bei dem es darum geht, Neues in einem wenig bis nicht erforschtem Feld zu entdecken und aus der Studie eine gegenstandsbegründete Theorie ( Grounded Theory , Strauss 2007) zu entwickeln.
[119]In Explorationsstudien werden häufig qualitative Methoden (teilnehmende Beobachtung, Interview s) verwendet, um dem Untersuchten möglichst offen gegenüberzutreten. Ethnographische Studien sind i. d. R. als Explorationsstudie angelegt. Bei komplexen Datensätzen können Explorationsstudien zur Entdeckung von bislang unbekannten Zusammenhängen in den Daten mit statistischen Methoden durchgeführt werden (Tukey 1977). Relevant für die Beurteilung von Explorationsstudien ist: Handelt es sich tatsächlich um einen noch zu explorierenden Gegenstand? Ist der methodische Zugang offen und sensibel genug konzipiert, so dass das Neue im Untersuchten sichtbar werden kann? Fragestellungen und Methoden werden bei Explorationsstudien oft erst im Laufe der Studie (weiter) konkretisiert. Für die Bedeutung als eigenständiger Untersuchungsansatz ist bei Explorationsstudien zentral, inwieweit sich die Ergebnisse nicht nur auf die Entwicklung von Instrumenten für eine Folgeuntersuchung beschränken, sondern auch Erkenntnisse über das untersuchte Feld bzw. den Gegenstand etwa in einer aus dem empirischen Material entwickelten Typologie oder Theorie darstellen.
Literatur
Flick Uwe, 2009: Sozialforschung – ein Überblick für die BA-Studiengänge, Reinbek. – Ders., 2011: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, 4. Aufl., Reinbek. – Strauss, Anselm, 2007: Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Stuttgart. – Tukey, John, 1977: Exploratory Data Analysis, Reading, MA.
Uwe Flick
[120]F
Familiensoziologie
(engl. sociology of family) Traditionell wird Familie als eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen Mann und Frau mit einem gemeinsamen Kind und einer gemeinsamen Haushaltsführung definiert. Innerhalb der familiensoziologischen Forschung findet die dadurch angelegte Einengung praktisch jedoch kaum Beachtung, und die Untersuchung der unterschiedlichsten Lebensformen und deren Veränderung, wie beispielsweise die Entstehung und Entwicklung von ersten Partnerschaften ebenso wie die Arbeitsteilung in homosexuellen Paarbeziehung en oder die soziale Integration kinderloser Paare sind Gegenstand der Forschung. Versuche, neue Begrifflichkeiten (Soziologie der Zweierbeziehung, Soziologie partnerschaftlicher Lebensformen) zu etablieren, erscheinen wenig sinnvoll und stoßen auf geringe Akzeptanz. Eine der wichtigen Aufgaben einer derart breit angelegten Familiensoziologie besteht dann auch darin, die Entwicklung und Verbreitung der unterschiedlichen partnerschaftlichen und familialen Lebensformen zu beschreiben und erklären.
Zur historischen Entwicklung von Partnerschaften und Familie
Anthropologische Forschungen und evolutionsbiologische Erkenntnisse legen nahe, dass Partnerschaft und Familie zu den ursprünglichen Institution en in der Menschheitsgeschichte gehören. Die Ethnographie zeigt aber andererseits, dass sich hier eine nahezu unbegrenzte Vielfalt der konkreten Organisationsformen finden lässt, die häufig anhand der Heirat sformen (Polygamie versus Monogamie), der Lokalitätsregeln (patri-, matri- oder neolokal), der Deszendenzregeln (patri-, matri- oder ambilateral), der formalen und informellen Herrschaftsregeln (Patriarchat oder Matriarchat) sowie der Verwandtschaftsterminologie zu systematisieren ist (Hill/Kopp 2006). Während über längere Zeit die Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten vorherrschte – beispielsweise von einem ursprünglichen Matriarchat (Bachofens These des Mutterrechts) oder urkommunistischen Formen mit einer hohen Promiskuität (Engels Vermutungen zum Ursprung der Familie) hin zu eher patriarchischen Formen oder von der erweiterten Familie zur Kleinfamilie (Kontraktionsgesetz der Familie bei Durkheim) – dominiert in der modernen Familienforschung der Versuch, die genauen Bestimmungsgründe einzelner familialer Organisationsformen zu untersuchen und auf strukturelle Unterschiede zurückzuführen. So ist beispielsweise die Polygynie (ein Mann hat mehrere Frauen), aber auch die wesentlich seltener vorkommende Polyandrie (eine Frau hat mehrere Männer) das Ergebnis dauerhafter ökonomischer Ungleichheit und Knappheit und – wie nahezu alle genannten komplexeren Familienformen – meist nur in Gartenbau- und einfachen Ackerbaugesellschaften zu finden. In Europa und den Vereinigten Staaten wurde von der historischen Familienforschung mit Hilfe verschiedenster Verfahren – unter anderem der Ableitung von Biographien aus alten Kirchenbüchern – die familiale Lebenssituation in den einzelnen Epochen rekonstruiert (vgl. Gestrich et al. 2003; Ketzer/Barbagli 2001). Viele Vermutungen mussten aufgrund dieser Ergebnisse revidiert werden: so war die Familiengröße nie besonders hoch, unvollständige Familien waren bei den Bauern selten, kamen jedoch in unterbäuerlichen Schichten durchaus häufig vor, Stieffamilien waren aufgrund der hohen Sterblichkeit vor allem von Frauen und einem ökonomisch bedingten Rollenergänzungszwang keine Seltenheit, das Heiratsalter war in der Regel relativ hoch, und durch die Industrialisierung lassen sich vielerorts sogar stärkere und nicht schwächere familiale Beziehungen beobachten. Bei allen Problemen hinsichtlich der Datenlage lässt sich zudem vermuten, dass die Emotion alität zwischen den (Ehe-)Partnern, aber auch gegenüber Kindern keine Erfindung der Moderne ist. Familiale Verhaltensweisen waren immer eine Reaktion auf die äußeren Umstände, Emotionen waren ein Bestandteil des Handlungskalküls.
Zur demographischen Entwicklung von Partnerschaften und Familie
Während sich für die Zeit bis etwa zum Ende des 19. Jh.s mit Hilfe dieser geschichtswissenschaftlichen Verfahren nur lokal vereinzelt Aussagen über die Struktur familialen Lebens machen lassen, ist es im 20. Jh. mit Hilfe der amtlichen Statistik und verstärkt [121]seit Mitte der 1970er Jahre aufgrund der Ergebnisse der empirischen Sozialforschung möglich, die Entwicklungen genauer zu erfassen und zu untersuchen. Hierbei werden zuerst die einzelnen familiendemographischen Prozesse wie das Heiratsalter und die Zahl der Ehe schließungen, die Zahl der Geburten und das Alter der Frau bei der ersten Geburt, die Zahl der Ehescheidungen oder die durchschnittliche Größe der einzelnen Haushalte genauer fokussiert. Auch wenn bei diesen Studien durchaus interessante Ergebnisse zu beobachten sind – das Heiratsalter sinkt bis Mitte der 1970er Jahre und hat seitdem einen historisch nie erreichten Höchststand erlangt, einen ähnlich u-förmigen Verlauf kann man hinsichtlich des Alters bei der Erstgeburt beobachten, die Zahl der Eheschließungen ist rückläufig, die Zahl der Ehescheidungen steigt seit 1880 nahezu linear an und die Zahl der in einem Haushalt lebenden Personen nimmt stetig ab – stellte sich rasch heraus, dass derartige Trendbeschreibungen nur sehr wenig Erkenntnisse hinsichtlich der Ursachen dieser Prozesse und vor allem auch nur ein geringes Potenzial zur Vorhersage der weiteren Entwicklung hervorbringen, zumal sich in einer regional und international vergleichenden Perspektive deutliche Unterschiede beobachten lassen. Mit der Einsicht in die Unmöglichkeit allgemeiner makrotheoretischer Trendaussagen ist auch ein Wechsel in der theoretischen Sichtweise der Familie verbunden.
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