„Trink, bevor der Tee kalt wird. Dann schmeckt er nämlich nicht mehr“, holte Paul sie aus ihren Betrachtungen in die Gegenwart zurück.
Vorsichtig trank Pauline einen Schluck. Gar nicht mal übel. Sie staunte und nahm noch einen Schluck. Im Nu war die Tasse leer und Pauline stellte sie auf dem Tisch ab.
„Geht es dir besser?“
„Danke, es geht schon wieder. Allerdings ist mir immer noch kalt.“
„Das können wir ändern.“ Paul beugte sich über die Lehne des Sofas und beförderte eine kuschlig aussehende Decke zutage. Die legte er Pauline über die Schultern.
„Wird gleich besser.“
Pauline hielt die Decke vor ihrem Brustkorb zusammen. Pauls Fürsorge rührte sie. „Danke.“
„Setz dich doch, ich hole noch einen Tee.“ Er wies lächelnd in Richtung Couch, nahm Paulines Tasse und schlenderte aus dem Zimmer.
Pauline entschied sich für den Sessel am Fenster. Immer noch regnete es stark und ab und an zuckten Blitze aus dunkelgrauen Wolken, worauf bedrohliches Donnergrollen folgte. Aber hier bei Paul fühlte sie sich sicher und geborgen. Von ihrem gemütlichen Platz am Fenster aus konnte sie das Geschehen am Himmel beobachten, ohne sich fürchten zu müssen.
Paul stutzte, als er zurückkam. Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. „Du hast dir meinen Lieblingsplatz ausgesucht.“
Rasch sprang Pauline auf. „Oh, das wusste ich nicht.“
„Ist in Ordnung, bleib sitzen. Hauptsache, du hast es bequem.“ Er stellte Paulines Teetasse auf den kleinen Beistelltisch und blieb neben dem Sessel stehen. „Ich sehe oft hinaus aufs Meer“, gestand er. „Dabei habe ich dich, beziehungsweise eine verrückte Person, die sich am Strand herumtrieb, durchs Fernglas entdeckt. Diese Unvernunft hat mich wütend gemacht, aber ich musste einfach helfen. Schließlich konnte ich nicht zusehen und abwarten, ob es diesem Menschen gelingen würde, heil in den Ort zu kommen.“ Schon wieder umwölkte sich Pauls Stirn, schon wieder schien er sich über ihre Unvernunft zu ärgern.
„Ich hab dir schon erklärt …“ Sie brach ab. „Entschuldige“, murmelte sie. „Ich wollte niemanden, besonders nicht dich, diesem Wetter aussetzen.“
„Ist ja nichts passiert.“ Seine Gesichtszüge glätteten sich. „Außerdem war es eine gelungene Überraschung, als du unter der Kapuze hervorkamst.“
„Wirklich?“
„Mmh.“
Pauline konnte Pauls Blick nicht deuten, aber ihr Herz raste plötzlich. Sie war ebenso überrascht gewesen, als er vor ihr gestanden hatte. Das war Schicksal. Eindeutig. Fast wie in einem Liebesroman … ähm … diese Szene musste sie sich merken. Unbedingt. Paul sah sie immer noch so komisch an. Wenn sie doch bloß hinter seine Stirn blicken könnte. Seine Gedanken lesen. Er beugte sich zu ihr herab und stützte sich auf den Sessellehnen ab. Himmel, seine graublauen Augen konnten einen ganz schön aus der Fassung bringen. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Würde er sie küssen?
„Du hast mich versetzt“, murmelte Paul. „Ich habe jeden Tag im Rosencafé auf dich gewartet.“
„Wirklich?“ Pauline konnte es nicht fassen. „Ähm, ich dachte, das sei nur so dahingesagt gewesen.“
„Ich sage niemals etwas nur so dahin.“
Pauls Augen verdunkelten sich. War er verärgert? Mehrmals hatte Pauline in den vergangenen Tagen überlegt, ob sie auf gut Glück nach Nebel fahren sollte. Doch die Blöße, stundenlang vergeblich im Café auf ihn zu warten, hatte sie sich nicht geben wollen. „Wenn ich das geahnt hätte …“
„Halt den Mund“, flüsterte Paul. Mit dem Zeigefinger hob er ihr Kinn an. Erwartungsvoll schloss Pauline die Augen. Schon spürte sie seine Lippen auf ihren. Sie schmeckten nach Kräutertee und ein bisschen auch nach Meer. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, er zog sie vom Sessel und zu sich heran. Er hielt sie fest an seinen Brustkorb gedrückt. Sein Kuss wurde fordernder, seine Zungenspitze begehrte Einlass, glitt über ihre Lippen, über ihre Zahnreihe, und tänzelte schließlich mit ihrer um die Wette. Seine Hände glitten über ihren Rücken und eine wohlige Wärme erfüllte Pauline. Staunend registrierte sie seinen heftigen Herzschlag. Dann konnte Pauline nicht mehr denken. Die Gefühle, die Paul in ihr auslöste, zogen sie vollkommen in den Bann.
6. Kapitel
Als Pauline gegen Abend durch die Eingangstür in die Pension trat, kam Jule gerade die Treppe heruntergerannt. „Sag mal, wo warst du denn? Ich habe mir wahnsinnige Sorgen gemacht.“ Im Erdgeschoss angekommen stemmte Jule ihre Hände in die Hüften und baute sich vor Pauline auf. Sie sah verärgert aus.
„Ich hab dir doch einen Zettel auf den Küchentisch gelegt.“
„Ja, hast du. Was meinst du, wie mir zumute war, als ich bei dem Unwetter vorhin deine Nachricht Ich geh vom Leuchtturm über’n Strand nach Wittdün gelesen hab.“ Jules Gesicht war vor Empörung rot angelaufen und stand in merkwürdigem Kontrast zu ihren wilden karottenroten Haaren. „Ich bin hier rumgerannt wie ein Tiger im Käfig. Zuerst habe ich versucht, dich auf dem Handy zu erreichen. Bis ich es zufälligerweise vom Flur aus in deinem Zimmer hab klingeln hören.“
„Tut mir leid, der Akku war alle. Da hab ich es zum Aufladen in die Steckdose gesteckt.“
„Hab ich auch gemerkt. Mensch Pauline! Echt! Ich war drauf und dran mich ins Auto zu setzen und nach Wittdün zu düsen. Doch wo hätte ich dich finden sollen? Ich wusste ja nicht, wann du los bist und ob du es noch vor dem Gewitter in den Ort geschafft hattest.“
Pauline sackte in sich zusammen. Sie war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass sich Jule Sorgen um sie machen würde. Sonst hätte sie von Paul aus bei ihr angerufen. Verdammt. Erst hatte sich Paul um sie gesorgt und dann Jule. War sie wirklich so leichtsinnig gewesen oder übertrieben es die beiden mit ihrer Fürsorge? Pauline warf die Tüte mit den nassen Kleidern auf den Boden, eilte zu Jule und umarmte ihre Freundin. „Och Jule. Beruhige dich. Es ist alles gut. Ich bin wieder hier.“
„Erschreck mich nie wieder so. Sonst kündige ich dir die Freundschaft.“ Jule rückte ein wenig von Pauline ab.
„Und überhaupt, wie siehst du aus? Hast du einen Altkleidercontainer geplündert?“ Sie schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. „Hoffentlich hat dich keiner meiner Gäste gesehen.“
Pauline konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und hakte sich bei ihrer besten Freundin unter. „Komm, lass uns in die Küche gehen, dann erzähle ich dir, wer mich am Strand aufgelesen hat.“
„Das Schicksal scheint euch ja immer wieder zusammenzuführen – oder der Zufall.“ Jule hatte sich beruhigt und lauschte Paulines Bericht.
„Du musst ihn unbedingt kennenlernen. Du wirst ihn mögen.“
„So weit ist es schon bei euch? Wie heißt er eigentlich?“
„Paul. Pauline und Paul. Komischer Zufall oder? Wir treffen uns morgen Nachmittag hier in Norddorf im Eiscafé. Du könntest mitkommen.“
„Paul, soso.“ Jules Gesicht verdüsterte sich.
„Was hast du?“
„Ich kannte mal einen Paul, früher.“ Jule zupfte an den Fransen der Tischdecke herum. „Wie sieht der Typ aus, mit dem du dich triffst?“
Jules Verhalten irritierte Pauline. „Wird das ein Verhör?“
„Also, wie sieht er aus?“
„Schlank, blonde Locken, braun gebrannt. Wieso? Glaubst du, du kennst ihn?“
Jule atmete sichtlich erleichtert aus. „Wohl nicht. Der, den ich mal kannte, hatte kurz geschorene Haare. Ich bin froh, dass dein Paul ein anderer ist.“
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Musst du auch nicht. Ist Jahre her und ich will nicht darüber sprechen.“
Obwohl ihre Auskunft Jule beruhigt hatte, wollte Pauline der ominösen Fragerei auf den Grund gehen. „Nun sag schon, was hast du?“
Jule schüttelte den Kopf, als wollte sie eine ungute Erinnerung abschütteln. „Vergiss es“, sagte sie mit Nachdruck.
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