„Aua aua“, meinte Laura. Jetzt wird’s aber kompliziert. Wir haben nun mal ganz unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft. Unsere U-Bahnkids sind doch nicht die Politiker, sie sind nicht die Arbeiter, die Studenten, oder die Beamten der Ausländerpolizei. Wie willst du allemit einer einzigen Musik ansprechen? Außerdem gibt es eine Definition von Kunst. Eine Kunsttheorie.“
Davon hatte Dennis keine Ahnung. Er sah das praktisch.
„Wenn wir das herausgefunden haben, dann haben wir gefunden, was ich mit Musik meine. Conny denk mal an deine Konzerte in Mailand, auf der Wartburg, auf dem Campingplatz oder vor den Ratten im Berliner Tunnel. Denk auch an deine Übungen vor zwei Tagen mit der dritten Geige. Vergleich das mal. So viele unterschiedliche Zuhörer und doch haben dir alle andächtig zugehört. Und dennoch: Es war noch nicht perfekt. Es hatte immer irgendwas gefehlt. Genau danachsuchen wir. Vielleicht finden wir in Südamerika die Antwort auf unsere Fragen.
Eigentlich wollten sie nur spazieren gehen, doch es war ein sehr tiefsinniges Gespräch geworden. Sie ließen sich von Bob nach Hause fahren.
„Wenn ich das alles in die Analyse im Abitur packe, dann hab ich noch was vor mir“, sagte Conny. Dennis nickte. „Dann lass uns noch mal darüber sprechen. Nicht jetzt. Nicht morgen. Aber bitte mit konkreten Texten. Es muss vor deinem geistigen Auge bildlich entstehen. Wie ein Film.“
Als er dann mit Laura alleine war, fragte er: „meinst du, dass es für Conny gut ist, wenn wir so oft hier sind? Sie ist das sicher nicht gewöhnt und sie wird vielleicht auch abgelenkt von dem, was sie sonst tut.“
„Wir können sie morgen fragen“, meinte Laura. „Ich habe in der Stiftung meine eigene kleine Wohnung. Wenn du willst, können wir auch dorthin gehen, oder du kannst mal ein paar Nächte bei den Kids schlafen. Sie werden sich sicher darüber freuen.“
9.
Am nächsten Morgen war alles wie sonst auch, aber Conny meinte: „Der Tag gestern hat mich etwas ins Grübeln gebracht. Ich muss ein bisschen nachdenken. Ich will auch ein bisschen Geige spielen, ganz für mich alleine. Könnt ihr mich heute in Ruhe lassen?“
Dennis schaute Laura an. Er sah, wie es in ihren Augen kurz aufflackerte, als sie nickte. „Gut. Dann wird mir Laura jetzt mal ihre Wohnung zeigen. Wir haben viel zu recherchieren. Wir rufen dich an.“
„Du und deine Vorahnungen“, lachte Laura, als sie auf dem Weg in die Stadt waren. Sie hängte sich bei Dennis ein und hüpfte glücklich neben ihm her.
10.
Heute am Sonntag morgen waren die Räume der Stiftung leer. Nur am Nachmittag würden vier oder fünf Freunde kommen, um Telefondienst zu machen, aber das müsse sie nicht interessieren. „Ich kann dann mal kurz runtergehen und sehen, ob ich gebraucht werde. Ich mache das immer so. Es gibt Tage, da muss ich dann unerwartet los. Das kennst du ja. An den Wochenenden gibt’s nun mal viele Veranstaltungen, wo man präsent sein will. Heute hab ich darum gebeten, dass sie mich in Ruhe lassen.“
Lauras Wohnung lag über den Büros der Stiftung, im Dachgeschoss. „Offiziell wohne ich immer noch bei meinen Eltern“, hatte Laura erklärt. „Die sind immer noch in der Welt unterwegs. Mal in Australien, mal in den USA, in Kanada oder auch in Südamerika oder Japan. Sie sollen machen, was sie wollen. Ich hab auch immer noch meine „Nanny“. Die gehört längst zum Inventar. Sie passt auf das Haus der Eltern auf. Sehr praktisch. Ich wohne meistens hier.“
Sie waren mit dem Aufzug hochgefahren. Laura schloss die Tür auf. Dennis staunte. „Kleine Wohnung, hast du gesagt. Das ist ja ein riesen Teil.“ „Naja. Ich hab genug Platz. Trifter hat übrigens seine Wohnung direkt neben mir. Wenn wir auf dem Balkon stehen, können wir ihm hallo sagen, wenn er da ist.“ Dennis war überwältigt.
„Das müssen wir erst mal feiern“, meinte er und schlug mit der flachen Hand auf die Bettkante. Laura hatte ihn schon umarmt, warf ihn um und sie fielen lachend aufs Bett.
An diesem Sonntag zeigte sie Dennis, was man im Internet alles in Erfahrung bringen kann. Politiker, Städtenamen, Luftbilder, die Namen der Frachtdampfer und die Abfahrtszeiten, Kosten der Schiffspassagen und sogar Querschnitte und Aufbau einzelner Schiffe. Sie konnte sich Entfernungen berechnen lassen und einzelne Seiten ausdrucken.
Dennis war in diesen Sachen völlig unerfahren. Er hatte sich damit nie beschäftigt. Für ihn waren stets ganz andere Dinge wichtig gewesen. Er verstand auch die Bedienung des Geräts nicht. Die Schritte waren für Laura recht einfach, die sie da ausführte. Für Dennis war alles neu.
Außerdem hatte ihn Laura gewarnt. Im Internet gibt es Seiten, die man lieber nicht öffnen sollte. Ich habe da zwar einen aktuellen Virenschutz drauf, aber das hilft nicht immer. Wir wollen nicht, dass irgendjemand unseren Rechner übernimmt.
Das verstand Dennis nun gar nicht. Laura erklärte es kurz.
„Wenn jemand Viren oder sogenannte Backdoorprogramme in unseren Rechner schleust, dann kann er unseren Rechner übernehmen. Er kann ihn selbsttätig zu bestimmten Arbeitsschritten zwingen, ohne dass ich das merke. Er kann sogar Abbuchungen oder Umbuchungen vornehmen. Das ist hochgefährlich und das passiert leider viel öfter, als man denkt. Wir machen hier viele Dinge. Wir müssen uns vorsehen, und dem Rechner nicht alles anzuvertrauen, was wir wissen. Es ist besser, wenn ich dich erst mal nicht alleine mit diesem Ding lasse.“
Dennis verstand, aber er begriff es nicht. Es war zu weit weg von seinem Lernhorizont. Er würde das in der Schule der Kids besprechen müssen.
Die Recherche war immerhin vielversprechend. So langsam kamen sie der Sache näher. Es würde noch viele Tage dauern, bis Dennis Legende perfekt war. Soviel verstand Dennis, er musste die Details auswendig lernen, und er musste das sogar noch parat haben, wenn er plötzlich aus dem Tiefschlaf geholt wird. Er durfte keinen Fehler machen.
„Wie bei einem Geheimagenten“, dachte er.
Er kannte sich. Normalerweise würde er auf einer solchen Reise viele Menschen treffen und denen auch im Gedächtnis bleiben, eben wegen seiner besonderen Art, also war es das Beste, wenn er anonym gereist war. Er hatte zu den Indios Kontakt gehalten, aber nicht zu bekannten Leuten der Zeit. Dennoch konnte das ungewollte Fragen aufwerfen. Er musste sich vorsehen.
Außerdem wollte er mehr wissen über die Indios von heute. Wie sie leben, wo sie leben, was für Gebräuche sie hatten. Laura würde ihm noch oft helfen müssen.
Es waren noch drei Wochen bis zu Connys Abitur und damit auch zu Dennis geplanter Wiedergeburt. Drei Wochen können schnell rumgehen. Dennis hatte es plötzlich eilig.
11.
In den nächsten drei Wochen besuchte Dennis Conny oft. Er schlief mal bei Laura, mal bei Conny und auch bei den Kids im Bunker. Die Postkarte war fertig. Richtig mit (gefälschter) Briefmarke, Datum und (gefälschtem) Stempel. Dennis brauchte sie nur noch in seiner Schrift zu schreiben.
Die Route war fertig. Alle Details festgelegt. Alles auswendig gelernt.
Dennis sah in dieser Zeit auch Susi noch mal. Alle andern Kontakte verkniff er sich. Seine Sicherheit ging vor. Er hatte den Bart stehen lassen. Die Haare hatte er, entgegen dem Rat „des Dicken“, nicht gefärbt.
„Wie sieht das aus mit blauen Augen“, hatte er gefragt. „Das ist unglaubwürdig.“ „Ob das einer bemerkt hat“, bezweifelte der Dicke, doch Dennis hatte geantwortet: „Es sind die Details, die sich ein guter Leibwächter merkt. Daran erkennt er jeden wieder. Auch nach Jahren. Mein Tattoo hat Gott sei Dank niemand gesehn.“ Dieser Argumentation konnte sich „der Dicke“ nicht entziehen. „Naja. Ganz können wir dich eh nicht verändern. Dann müssten wir schon eine Gesichtsoperation machen.“ Er grinste. „Schöner wirst du dabei nicht und so groß ist die Gefahr der Entdeckung nun auch wieder nicht. Vor allem, wenn du gleich wieder ins Ausland gehst, wie ich gehört habe.“
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