Es gab schwierige Texte. Dennis, der doch hervorragend zu reden wusste, stockte ab und zu. Er war nicht mehr in Übung. Vor allem, den Text so vorzulesen, dass jeder sofort verstand, worum es ging, war für ihn sehr schwierig geworden. Dennis hatte noch viel zu lernen. Er nahm sich vor, seine Bücher in Connys Haus laut zu lesen.
7.
Am Nachmittag war Dennis wieder super vorsichtig. Er wurde nicht verfolgt. Er traf Conny lernend vor und bat sie darum, den Text, an dem sie gerade saß, mit ihr abwechselnd laut zu lesen. So war es lustiger. Sie sprachen über den Text. Sie analysierten ihn. Das wiederum war Dennis Stärke. Er konnte viel über die handelnden Figuren und ihre Gefühle sagen, warum sie das sagten und nichts anderes. Warum sie freiwillig in den Tod gingen oder Gewissensbisse entwickelten. Das war Dennis Gebiet.
Irgendwann zwischendrin sagte Conny: „Warum haben wir das nicht schon viel früher gemacht?“ Du sagst da Dinge, die ich mir erst mühsam erarbeiten muss. Das kommt bei dir mit einer Leichtigkeit, dass ich nur staunen kann. Willst du nicht an meiner Stelle das Abitur machen?“
Dennis grinste, „du weist nur zu gut, dass ich schlecht lese. Mein Wissen bezieht sich auf die Fähigkeit zur Analyse von solchen Dingen. Meine Stärke ist es, mit Menschen umzugehen. Schick mich mal in eine Chemie oder Physikprüfung. Ich weiß nicht mal, was das genau ist. Ich kann dir ein einfaches Klärwerk bauen, ich habe das da unten gemacht, und sehr erfolgreich. Warum das so geht und nicht anders, das kann ich dir nur mit meinen eigenen Worten erklären aber nicht wissenschaftlich.“
Conny hatte schon verstanden. Dennis war ein Genie, aber ohne jede wissenschaftliche Grundlage. Er bezog sein Wissen aus dem Bauch und aus dem Leben. Intuitiv. Aus der Beobachtung und aus der Analyse und aus einer Art innerer Ahnung. Sie wusste, dass Dennis neugierig und offen war. Er wollte lernen. Er war gierig nach Wissen. Sie war sich dennoch bewusst, dass Dennis seine ganz eigene Entwicklung hatte. Sie versetzte ihn in die Lage, so zu sein, wie er war.
Sie fühlte, dass eine Regelschule dieses unvergleichliche Talent sicher zum Versiegen gebracht hätte. Sie wusste, was Dennis über Zwang dachte. „Flieg“, dachte sie. „Bleib frei wie ein Vogel, und lass mich von dir Lernen, solange es geht“.
Dieses Wissen über Dennis durchflog sie wie ein Blitz, dann widmeten sie sich wieder dem Text.
„Dennis“, sagte sie nach einer Weile. „Willst du mir noch mal helfen? Es gibt da einen schwierigen Text. Schiller. Das ist Prüfungsthema. Ich hatte mir das für das Wochenende vorgenommen, aber wenn du… .“
Dennis nickte und Conny brach ihren Satz ab. Dann widmeten sie sich dem „Wallenstein“. Auch hier wollte Dennis wieder abwechselnd lesen, wie in einem Theaterstück. Conny sah, dass es Dennis anstrengte, was ihr selbst so leicht fiel. Als es dann an die Analyse ging, änderte Dennis seine Taktik. Er stellte Fragen. Er wies Conny mit wenigen Worten auf mögliche Zusammenhänge hin, er forderte sie auf, selbst nachzudenken und eigene Schlüsse zu ziehen. Sie waren noch mitten im Text, als es klingelte.
Dennis war kurz angebunden. „Wir sind mitten in der Arbeit. Kocht was schönes. Wenn’s fertig ist, dann ruft uns.“ Auch das war wieder typisch für Dennis. Sie beendeten den Text mit Ruhe. Conny gab Dennis einen Kuss. „Mann. Jetzt hab ich endlich verstanden, um was es da geht. Du hast mir sehr geholfen.“
„Dafür sind Freunde da“, sagte Dennis lapidar. Dann gingen sie in die Küche. Die Freunde waren gerade fertig. Es gab Lamm mit Reis, Salat und Gemüse. „Der Dicke“ wollte ein Bier. Trifter und Dennis begnügten sich mit Wasser. Laura und Conny nahmen, was grade da war, Berliner Schorle.
Nach dem Essen leckte sich „der Dicke“, der immer noch so dünn war wie eh und je, die Finger. „Kann ich nicht öfter kommen?“ Conny lachte. „Klar. Immer, wenn du willst.“
„Dass’n Angebot“, sagte „der Dicke“ und grinste, „und nun mal zu dir, Dennis. Bin ich froh, dass du wieder hier bist. Hab schon Gewissensbisse gehabt.“
Dennis antwortete rund heraus. „Es hat sich gelohnt. Ich bin mit neuen Erkenntnissen wiedergekommen. Wenn ihr mir das erlaubt, dann kann ich jetzt für Conny und die Stiftung viel mehr tun als damals. Es hat also auch sein Gutes. Und nun erzähl mal. Conny soll das jetzt auch mal hören. Conny kannnämlich das Maul halten. Wenn sie’s nicht hören will, soll sie rausgehen.“
„Der Dicke“ erzählte kurz. Dann kam er auf den Punkt. Das Problem ist deine Illegalität. Dein Aussehen könnten wir verändern. Aber so ein Pass ist nicht so leicht zu besorgen, wie du dir das vorgestellt hast.“
Dennis winkte ab. Er fragte Trifter: „Was ist mit der Schulpflicht?“ „Is’ vorbei, flötete Trifter. Du bist sechzehn. Du bist frei. Es gibt noch ein mögliches Problem mit der Lehrpflicht, aber das können wir regeln. Du kannst Lehrling bei der Stiftung werden. Das Einzige ist, dass wir deinen Herkunftsnachweis ordentlich dokumentieren. Wir brauchen also Papiere.“
Dennis nickte. „Hört sich gut an. Nun erzähl mal von meiner Weste.“
„Mann“, sagte Trifter, „das ist die größte Überraschung. Die haben eine Isotopenbestimmung gemacht. Das ist ein absolut sicheres Verfahren. Und nun halt’ dich fest. Die Weste, der Dolch und das Schwert sind aus dem Jahr 300 vor Christus. Du warst 2300 Jahre zurück in der Vergangenheit.“
„Die haben die Messung zweimal gemacht, weil sie das nicht glauben wollten. Der Erhaltungszustand spricht dagegen, haben sie gesagt. Wie ist das möglich? Kein bisschen Rost. Über den Stahl haben sie verwundert den Kopf geschüttelt. Sie wussten nicht, dass man damals einen so harten Stahl herstellen konnte. Die Weste, Mann, die haben Rotz und Wasser geheult. Ein 2300 Jahre alter Stoff, der so gut wie neu ist, mit Spuren von Schweiß, die erst ein paar Tage alt sind. Das Blut, dass sie gefunden haben ist allerdings wieder 2300 Jahre alt. Es stammt von verschiedenen Personen. Die waren aus dem Häuschen. Natürlich wollten die wissen, wo das her ist. Und dann noch der Stein. 1 Karat sind 0,2 Gramm. Sie wollten den Stein nicht ablösen und haben das Gewicht geschätzt. Sie kamen auf runde 30 Gramm. Das entspricht 150 Karat. So einen Stein, haben sie gesagt, gibt es nur noch einmal in der Welt. Er kommt aus Indien. Sie konnten nicht sagen, was der wert ist. Jede Schätzung geht da dran vorbei, haben sie gesagt. Das gesamte Schwert hat einen Wert, der in der Welt einmalig sein dürfte, wenn wir mal die Preise für Diamanten oder die Versteigerungspreise bei Christies für eine Preisschätzung heranziehen.“
„Das Ganze liegt längst im Safe. Nicht mehr in der Stiftung. Nein in einem Banksafe. Hinter einer dicken Panzertür. Kostet uns ein kleines Vermögen, ist aber hundertprozentig sicher.“
„Außerdem haben sie gesagt, diese Weste da sei indianisch. Genaugenommen aus Südamerika. Auch das konnten sie bestimmen. Nur verstanden sie nicht, warum das so alt ist. Die Inkas lebten vor höchstens 800 Jahren. Davon gibt es verhältnismäßig viele Funde. Man weiß, dass es in Ecuador schon 4000 vor Christus eine Hochkultur gab. Darüber weiß man fast nichts. Dann gab es etwa 850 bis 200 vor Christus noch eine Hochkultur, die sie Chavin de Huánar genannt haben (er las das von einem Zettel ab). Davon gibt es nur wenige Funde. Genaues weiß man nicht. Sie meinten, dass die Stücke wohl am ehesten aus dieser Kultur stammen könnten. Sie ist so alt wie diese Weste.
Dennis nickte. Dann weiß ich zumindest, wann ich dort war. Ich weiß ja, dass ich in den Anden war. Die Entfernungen dort kann ich nur in ungefähren Tagesmärschen beschreiben. Wenn ich einen Atlas hätte, könnte ich euch wenigstens in etwa zeigen, wo ich war. Conny lief schon raus und kam mit einem Atlas zurück.
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