‚Eine gute Gelegenheit für die ersten Fotos‘, überlegte Sannah. Sie lief in ihr Zimmer und holte die Kamera.
Wieder draußen, näherte sie sich vorsichtig dem Reitplatz, um das Pferd nicht zu erschrecken. Sie hob fragend die Kamera, und Josh nickte zustimmend. Sannah begann ihre Fotos zu schießen, während er mit dem Pferd arbeitete. Der Wallach hatte viel Temperament und versuchte seine Grenzen auszutesten. Er fing an, hektisch zu tänzeln und riss den Kopf hoch. Josh zeigte sich unbeeindruckt, ritt einfach weiter und korrigierte die Kopfhaltung. Nie wurde er wütend oder grob, obwohl das Pferd es ihm nicht leicht machte. Der Wallach fing an zu buckeln und versuchte seinen Reiter loszuwerden, doch Josh blieb ungerührt im Sattel kleben und ließ zu, dass das Pferd seine Kraft verschwendete. Der vierbeinige Temperamentsbolzen merkte, dass seine Gegenwehr keinen Erfolg hatte und beruhigte sich. Geduldig wiederholte Josh die Lektion, ließ das Pferd Fehler machen, um diese dann wieder sanft zu korrigieren.
Sannah war völlig fasziniert, nicht nur von Joshs Reitkunst, sondern vor allem von der Ruhe, die dabei von ihm ausging. Sie war selbst keine schlechte Reiterin, aber verglichen mit ihm kam sie sich vor wie eine Anfängerin.
Als das Pferd eine Übung fehlerfrei absolvierte, stieg Josh ab, lobte den Wallach überschwänglich und gab ihm den Rest des Apfels. Das Pferd war schweißgebadet, Josh nicht.
„Reitest du ihn trocken?“, fragte er. „Dann hab ich Zeit für das Nächste.“
Sannah schluckte. Ebenso gut hätte er ihr eine brennende Dynamitstange in die Hand drücken können, mit dem Kommentar: „Halt mal fest!“ Sie legte ihre Kamera beiseite und kroch zögernd unter dem Zaun durch. Er hielt das Pferd, während sie vorsichtig aufstieg. „Keine Sorge“, meinte Josh grinsend. „Der hat sein Pulver für heute verschossen.“
Sie sah ihn erstaunt an, konnte er jetzt auch Gedanken lesen? „Reite ihn einfach am langen Zügel, bis sich seine Atmung beruhigt hat“, wies er sie an und machte die Fender kürzer. Sie nickte und begann ihre Bahnen zu ziehen. Josh verschwand, um das nächste Pferd zu satteln.
Sannah wurde es etwas mulmig, als er sie allein ließ, aber der Wallach lief brav seine Runden, ließ entspannt den Kopf hängen und kaute zufrieden auf dem Gebiss. Sie beruhigte sich und genoss das Gefühl, wieder im Sattel zu sitzen. All die Jahre hatte sie es vermisst, ohne es zu merken. Kummer und Sorgen lösten sich hier oben in Luft auf, man konnte wieder frei atmen und einfach nur glücklich sein.
Josh schien es genauso zu gehen, seine Laune war wieder deutlich besser, seit er auf dem Pferd saß. Sannah lächelte, eigentlich waren sie gar nicht so verschieden.
Irgendwann kam Josh mit dem nächsten Pferd zurück. Sie stieg ab und brachte den Wallach nach dem Absatteln wieder auf die Weide. Dieses Prozedere wiederholte sich noch vier Mal. Sannah fotografierte, während Josh im Sattel saß, und ritt dann trocken, damit er das nächste Pferd holen konnte. Als alle Ausbildungspferde wieder auf ihrer kleinen Weide standen, sah Josh zufrieden auf seine Uhr. „Du hast mir heute eine Menge Arbeit abgenommen. Als Dankeschön lade ich dich beim nächsten Einkauf auf ein Eis ein.“
Sannah strahlte. „Hab ich gern gemacht. Hast du irgendwann mal Zeit, mir etwas Unterricht zu geben?“, fragte sie.
Er sah sie erstaunt an. „Klar! Aber du machst das doch gut“, stellte er fest.
Sannah schüttelte den Kopf. „Man lernt nie aus, und verglichen mit dir bin ich ein blutiger Anfänger.“
Josh lächelte, etwas verlegen über das Kompliment, das sie ihm gemacht hatte. „Ich hole jetzt die Herde von der Weide, möchtest du wieder mit?“, fragte er.
Sannah winkte ab. „Wenn du nachher was zu essen haben willst, sollte ich besser anfangen zu kochen“, sagte sie bedauernd.
„Selber schuld!“, meinte er.
Nach dem Abendessen saß Sannah am Küchentisch und speicherte die Fotos auf ihrem Laptop. Josh hatte geduscht und setzte sich dazu. Sein Haar war noch nass, und er roch nach Shampoo.
„Die sind gut geworden“, lobte er anerkennend und rückte noch ein bisschen näher, um besser sehen zu können. Sie schob den Computer ein wenig zu ihm rüber; ihn so dicht neben sich zu haben, machte sie plötzlich nervös. Die Wärme, die von ihm ausging, spürte sie so deutlich wie eine Berührung. Ein heißes Kribbeln lief ihr über den Nacken. Fahrig lud sie die letzten Fotos von der Kamera und überließ ihm den Laptop.
„Sieh sie dir in Ruhe an, ich geh solange duschen“, entschuldigte sie sich und flüchtete die Treppe hoch.
„Das Wasser ist noch kalt!“, rief er warnend hinterher.
‚Kalt ist gut‘, dachte Sannah.
Einen Augenblick später vernahm er grinsend ihren kurzen Schrei aus dem Bad. Das Wasser war offenbar noch sehr kalt. Es war ihm nicht entgangen, dass er sie nervös machte.
Nach dem ersten Kälteschock ließ Sannah sich das Wasser über das Gesicht laufen und fluchte. Normalerweise hatte sie nie Probleme damit gehabt, potentielle Verehrer in die Wüste zu schicken. Sie war fertig mit dem Thema Männer. ‚Ein für alle Mal‘, dachte sie grimmig. Abgesehen davon war Josh kein Verehrer. Er machte sich weder mit absurdem Balzverhalten noch mit postpubertärem Imponiergehabe lächerlich. Hatte er auch nicht nötig. Aber genau das war der springende Punkt. Kaum war ihr Annegrets Traumtyp vor die Füße geknallt, der zudem noch notorisch schlecht gelaunt war, sie ignorierte und ganz sicher nie auf die Idee käme, ausgerechnet an ihrer Türschwelle zu kratzen, bekam sie weiche Knie und Nervenflattern wie ein Teenager mit hormoneller Dysfunktion. Ihr limbisches System saß währenddessen auf dem Bett im Oberstübchen und feilte sich gutgelaunt die Fingernägel. Sannah führte ihre Reaktion auf einen rudimentären Urinstinkt zurück, der ihr signalisieren wollte: Starker Mann schwingt Keule und schleppt Mammut in Höhle. Heutzutage waren Frauen, dank der Erfindung der Tiefkühlpizza und des Aussterbens der Mammuts, nicht mehr darauf angewiesen, dass ein Keule schwingender Typ das Essen ranschaffte. Sannah erklärte Pizza zur Krönung der Emanzipation und sich selbst zum irrationalen Hormonopfer. Ihr limbisches System schüttelte missbilligend den Kopf und lackierte sich derweil die Fußnägel knallrot.
„Blöde Kuh!“, schimpfte Sannah. Bibbernd vor Kälte rubbelte sie sich trocken und wickelte sich in das Handtuch. Nach dem Zähneputzen war sie noch ganz in Gedanken, als sie die Tür öffnete und gegen Josh prallte. ‚Auch das noch‘, dachte Sannah.
‚Gleiches Recht für alle‘, dachte Josh.
„Morgen gibt es Pizza“, stammelte sie völlig aus dem Zusammenhang gerissen und flüchtete mit roten Ohren in ihr Zimmer. Er erhaschte noch einen Blick auf ihre nackten Beine und schüttelte grinsend den Kopf. Frauen verstehen zu wollen, war seiner Meinung nach reine Energieverschwendung.
Sannah biss sich auf die Lippe. Jetzt hatte sie sich auch benommen wie ein Teenager. Sie steckte noch mal den Kopf durch die Tür. „Gute Nacht“, sagte sie.
Josh drehte sich um. „Schlaf gut!“
Am Morgen wachte sie erst kurz vor sechs auf. Der Jetlag verzog sich langsam. In der Küche angekommen, erkannte sie an einer Schüssel mit Cornflakes-Resten, dass Josh ihr zuvorgekommen war. Mit einer Tasse Kaffee ging sie auf die Veranda. Die Herde war schon auf der Weide, und sein Truck war weg. Sannah nippte an ihrem Kaffee und verzog angewidert das Gesicht. „Bodensehkaffee“ mit einer gefühlten Temperatur von zwanzig Grad.
‚Aber über meinen Tee meckern‘, dachte sie spöttisch. Er musste schon länger weg sein. Josh war ihr keine Rechenschaft schuldig, wann er kam oder ging, aber ein bisschen komisch fand sie es schon. Sie machte sich ein Sandwich zum Frühstück, anschließend wollte sie ausmisten. Sannah vertrödelte den ganzen Vormittag mit Stallarbeit. Nach dem Ausmisten schrubbte sie gründlich die Tränken. Josh blieb verschwunden. Sie dachte darüber nach, die Gegend mit dem Auto zu erkunden, gab diesen Plan allerdings schnell wieder auf. Ohne Schlüssel für die Tür konnte sie nicht abschließen, und sie wollte das Haus nicht unbeaufsichtigt offenstehen lassen. Vor lauter Langeweile fegte sie die Fußböden und schob einen Kuchen in den Ofen. Am Nachmittag wurde Sannah langsam unruhig. Sie hatte eins von Joshs Büchern über Pferdezucht gelesen und nicht weiter auf die Uhr geachtet. Es wurde Zeit, die Herde von der großen Weide zu holen.
Читать дальше