Pine Ridge statt Pina Colada
Roman
von
Katja Etzkorn
Impressum
Pine Ridge statt Pina Colada, Katja Etzkorn
TraumFänger Verlag Hohenthann, 2018
1. Auflage eBook April 2021
eBook ISBN 978-3-948878-12-2
Lektorat: Michael Krämer
Satz und Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag
Datenkonvertierung: Bookwire
Titelbild: Adobe Stock
© ginettigino (Pferde), © Erica Guilane-Nachez (Inuit)
Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co. Buchhandels KG,
Hohenthann
Printed in Germany
Licht am Ende des Tunnels
Gerüchteküche
Cowboys und Kuhfladen
Schlangen und Fohlen
Reisefieber
Eisberg voraus
Tauwetter
Märchenstunde
Schlaflos
Erkenntnisse
Schweigen
Brot und Spiele
Luftschlösser
Donnervogel
Geduld ist eine Tugend
Tyler
Geister der Vergangenheit
Büffel und Maisbrei
Klapperschlangen küsst man nicht
Am seidenen Faden
Elch
Taté Sápa
Powwow
Micínkshi
Abschiede
Tiwáhe mitáwa kin
Frisch gefallener Schnee
O du fröhliche
Zukunft
Nomen est omen
Countdown
Alles oder nichts
Anyu
Die siebte Generation
Epilog
Licht am Ende des Tunnels
Frustriert zog sich Sannah die OP-Mütze vom Kopf. In den letzten drei Stunden hatte sie darum gekämpft, das Leben eines jungen Motorradfahrers zu retten, der nach einer wilden Hasenjagd auf der Autobahn an der Leitplanke gelandet war. Vergebens. Seine Verletzungen waren zu schwer gewesen, der Blutverlust zu hoch. Das Team hatte alles Menschenmögliche versucht, doch nun endete ein junges Leben hier auf ihrem OP-Tisch. „Shit“, fluchte Sannah. „Zeitpunkt des Todes zehn Uhr fünfzig“, verkündete der Anästhesist. Die OP-Schwester schaltete den enervierenden Dauerton, der den Herzstillstand des Patienten signalisierte, ab. Sannah warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sie zog die Gummihandschuhe aus und überließ es dem Assistenzarzt, die Wunde zu schließen. Die Handschuhe warf sie in einen Eimer und drückte dann die Tür zum Vorraum auf. Eigentlich hatte sie schon seit drei Stunden Feierabend, aber danach fragte nicht mal sie selbst, geschweige denn jemand anders. Im Umkleideraum zog sie den OP-Kittel aus und warf ihn samt Mütze in einen Sammelbehälter.
Sannah riss den Mundschutz ab und begann sich Hände und Arme zu waschen. Sie schöpfte sich Wasser ins Gesicht und blickte in den Spiegel über dem Waschbecken. Eine widerspenstige Strähne ihres schwarzen Haars fiel in ihr schmales, ebenmäßiges Gesicht. Ihre dunkelbraunen, mandelförmigen Augen waren groß und nach dem Nachtdienst mit dunklen Ringen umrandet. Die geraden Augenbrauen und die hohen Wangenknochen ließen ihr Gesicht ernst, fast streng wirken. Nur die vollen Lippen milderten diesen Eindruck ein wenig ab. Alles ein Erbe ihres Großvaters, einem Kalaaleq, den es seinerzeit von Grönland über Dänemark nach Hamburg verschlagen hatte. Sannah stützte sich mit den Händen auf das Waschbecken und ließ den Kopf hängen. Sie hatte im Laufe ihres Berufslebens als Unfallchirurgin gelernt, emotional Abstand zu halten und nicht alles an sich heranzulassen, aber gerade bei jungen Menschen fiel es ihr immer noch schwer. Nicht zuletzt, weil es ihr die eigene Vergänglichkeit vor Augen führte. Der Patient war jünger als sie gewesen, und nun war sein Leben vorbei.
„Raus hier!“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. „Nur schnell raus hier.“ Sannah schlüpfte aus den Gummilatschen, in denen man Schweißfüße bekam, und zog Hemd und Hose aus. Die Tür flog auf, und Jonas, der Anästhesist, kam herein. Er hatte ein bemerkenswertes Talent dafür entwickelt, immer dann im Umkleideraum zu erscheinen, wenn Sannah in Unterwäsche dastand. Sie warf ihm einen genervten Blick zu. Er hob die Hände, um seine Unschuld zu beteuern, und grinste jungenhaft. Während er selbst begann sich aus seinen OP-Klamotten zu schälen, beeilte Sannah sich Jeans und Pulli anzuziehen. Als sie auch ihre Schuhe anhatte, trat sie wütend gegen den Schrank.
„Hey“, sagte Jonas tröstend. „Nimm es nicht so schwer. Bei diesem massiven Trauma war nichts mehr zu machen, das weißt du so gut wie ich. Wir sind eben nur Halbgötter“, beendete er sarkastisch seinen Satz.
„Ich denke über eine Umschulung nach. Kennst du einen Job, der Spaß macht?“, fragte sie desillusioniert.
„Klar!“ Wieder blitzte dieses jungenhafte Grinsen über sein Gesicht. „Weihnachtsmann. Einen Tag arbeiten, dreihundert vierundsechzig Tage frei und der Chef weit weg.“ Sannah rang sich zu einem halbherzigen Lächeln durch.
„Also nichts für mich. Ich bin eine Frau.“
Jonas machte ein erstauntes Gesicht. „Ehrlich? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“
Sie warf ihm mit gespielter Entrüstung ihr Handtuch an den Kopf und musste nun doch schmunzeln. Das Leben ging weiter. Sie mochte seinen Humor und seine lockere Art. Gerade in solchen Augenblicken wie diesem. Trotzdem ignorierte sie seinen Hundeblick. Kollegen waren für Sannah tabu, und das wusste auch er. Der kurze Augenblick verging, und sie informierte den wartenden Beamten über den Tod des jungen Mannes. Bisher hatte man noch keine Angehörigen ausfindig machen können, und so blieb die traurige Pflicht an ihm, den Angehörigen die Nachricht zu überbringen. Sannah war erleichtert darüber.
Auf dem Weg zum Auto genoss sie die ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühlings auf der Haut und verfluchte gleichzeitig ihren Dienstplan. Es versprach ein schöner Tag zu werden, und sie konnte ihn nicht nutzen. Nach ihrem Nachtdienst war sie völlig ausgelaugt und brauchte Schlaf. Während der Fahrt nach Hause grübelte Sannah über ihr Leben nach. Der Dauerfrust der letzten beiden Jahre machte ihr zu schaffen. Sie liebte ihren Beruf, aber an Tagen wie diesem wurde ihr manchmal alles zu viel. Schon als Kind war sie ehrgeizig gewesen und hatte sich selbst hohe Ziele gesteckt. Unterstützt von ihren Eltern und Lehrern hatte sie zwei Klassen übersprungen und fand sich als „Baby“ auf dem Gymnasium wieder. Trotzdem war die Schule die Hölle für Sannah gewesen. Bedingt durch den Altersunterschied fand sie keine Freunde in ihrer Klasse. Niemand wollte mit dem jüngeren, aber altklugen Mädchen etwas zu tun haben. Die Hänseleien waren verletzend gewesen, und so zog sie den Stoff nur um so verbissener durch. Abitur mit siebzehn und Bestnoten. Das Studium und die Facharztausbildung absolvierte sie in Minimalzeit. Nun war sie neunundzwanzig und steckte in einer Sackgasse. Sie hatte alles erreicht. Oder fehlten ihr einfach nur neue Herausforderungen? Aber welche?
„Du brauchst dringend einen Mann!“, dozierte Annegret, ihre Freundin aus Studienzeiten, immer, wenn die beiden Zeit fanden sich auf ein Glas Wein zu treffen. „Oder wenigstens hin und wieder mal Sex!“
Sannah verdrehte im Geiste die Augen, wenn dieser Spruch kam. Sollte sie etwa den erstbesten Kerl an der Krawatte ins Schlafzimmer zerren? Ihr limbisches System, zuständig für das Mixen von aphrodisierenden Hormoncocktails und die damit verbundene geistige Umnachtung in puncto Männer, lag schockgefrostet als Eismumie in ihrem Oberstübchen. Eine Tür weiter, im präfrontalen Kortex, hatte Fräulein Rottenmeier das Zepter an sich gerissen und regierte mit eiserner Selbstdisziplin, Askese und verkniffenen Mundwinkeln. Eine baldige Änderung dieses Zustandes war nicht in Sicht. Sannah verbrachte den Großteil des Tages in der Klinik. Abends hatte sie dann keine Lust mehr, sich in Schale zu schmeißen und auszugehen. Und alleine schon mal gar nicht. Sie kam sich dann immer vor wie bestellt und nicht abgeholt. Männer und alles, was mit ihnen zusammenhing, waren nicht die Lösung, sondern das Problem. Ein Kollege kam auch nicht in Frage. Ihre letzte Beziehung mit einem Kollegen endete in einer hässlichen Scheidung. Das Trennungsjahr eingerechnet hatte ihre Ehe gerade mal drei Jahre gedauert.
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