„Da ist man ja schneller am Amazonas!“, meckerte sie.
„Wenn du nicht gleich Ruhe gibst, setze ich dich vorher noch kurz da ab!“, drohte Jonas grinsend und erntete einen dankbaren Blick von Sannah im Spiegel. Als Kleinste war sie auf die Rückbank verbannt worden.
Am Flughafen Fuhlsbüttel angekommen, ging dann alles ziemlich schnell.
Begleitet von Annegrets Besorgnis – „Pass auf dich auf und tue nichts Unüberlegtes!“ – und begleitet von Jonas‘ unerschütterlichem Optimismus –„Viel Spaß beim Ausreiten!“ –, verschwand Sannah in der Abflughalle.
„Nun ist sie weg“, stellte Jonas fest.
Annegret trocknete ein paar Abschiedstränen. „Hoffentlich geht alles gut“, meinte sie seufzend.
Jonas legte tröstend einen Arm um ihre Schulter. „Na klar! Sie wird eine Menge Spaß haben und auf andere Gedanken kommen. Das wird ihr guttun. Mittagessen bei mir?“, fragte er und grinste wieder mit seinem jungenhaften Charme.
„Gern“, sagte Annegret.
Zwei Tage später erreichte Sannah Rapid City. In Denver hatte sie schon Geld umgetauscht und musste jetzt nur noch den Mietwagen abholen. Sie hatte sich für einen keinen Geländewagen entschieden, man konnte ja nie wissen. Der Papierkram war schnell erledigt, und sie verfrachtete ihr Gepäck in den Kofferraum. Straßenkarte und Wegbeschreibung legte sie sicherheitshalber auf den Beifahrersitz, für den Fall, dass das Navi den Dienst versagte. Sannah atmete noch mal tief durch und fuhr los. Rechts von ihr lagen die Black Hills, links konnte man in weiter Ferne die Badlands erahnen. Die weite Landschaft zog in großen, wellenförmigen Hügeln aus Gras an ihr vorbei. Immer wieder unterbrochen von schroffen Felsen und kleinen Baumgruppen. Nach einer Weile tauchte ein Diner am Straßenrand auf. Sannah war müde und beschloss einen Kaffee zu trinken. Das Diner sah etwas heruntergekommen aus, auf dem staubigen Parkplatz standen ein paar Autos, hauptsächlich die hier üblichen Trucks. Sie parkte und stieg aus. Das Diner bestand aus einem langgezogenen Raum. Vorne war eine Art Tresen, weiter hinten befanden sich Tische und gepolsterte Sitzbänke. Hinter dem Tresen stand eine ältere, rundliche Frau und lächelte Sannah freundlich an. Am anderen Ende des Tresens saßen zwei Männer mittleren Alters in schmuddeligen Jeans und mit der obligatorischen Baseballmütze auf dem Kopf. Einer von ihnen pfiff anzüglich, als Sannah den Raum betrat. Hillbillys mit einem IQ knapp über dem Gefrierpunkt, lautete ihr Urteil und würdigte die Typen keines Blickes.
„Hallo“, sagte sie zur Kellnerin. „Einen Kaffee, bitte.“ Sannahs Englisch war fließend und akzentfrei.
„Gern“, antwortete die Frau und goss den Kaffee in eine Tasse. Sie schob Sannah noch Milch und Zucker zu. „Bei Ihrer Figur können Sie sich das leisten“, meinte sie lächelnd.
„Oh ja, Baby. Das kann sie!“, grölte es vom andere Ende des Tresens herüber. Sannah reagierte sicherheitshalber nicht, stufte die Tresen-Bewohner aber um einige zehntausend Jahre zurück. ‚Neandertaler‘, dachte sie boshaft.
„Halt die Klappe, Jack!“, schimpfte die Kellnerin und hielt Sannah solidarisch die Hand hin. „Ich bin Molly“, stellte sie sich vor und lächelte. Sannah ergriff die angebotene Hand.
„Hallo Molly, ich bin Sannah“, erwiderte sie freundlich.
„Auf dem Weg nach Pine Ridge?“, wollte Molly nun wissen. Sannah schlürfte ihren Kaffee und nickte.
„Ja, noch etwa eineinhalb Stunden, dann hab ich es geschafft.“
„Muss hart sein, nach Hause zu kommen, wenn man es aus der Rez raus geschafft hat“, meinte Molly mit mitleidigem Blick.
Sannah sah sie irritiert an. Es dauerte einen Moment, bevor sie begriff. Ihre schwarzen Haare, die braunen Augen und ihr dunkler Teint. Molly hielt sie für eine Lakota. Eine, die es geschafft hatte, sich ein Leben außerhalb der Reservation aufzubauen. Da Sannah keine Lust hatte diesen Irrtum aufzuklären, weil das nur weitere Fragen nach sich gezogen hätte, antwortete sie ausweichend: „Ich freue mich darauf, endlich mal wieder zu reiten.“
Molly gab sich damit zufrieden. Sannah trank ihren Kaffee aus und zahlte. „Schönen Tag noch, Molly“, wünschte sie.
„Gute Fahrt“, grüßte Molly zurück.
„Die würde ich nicht von der Bettkante schubsen“, grölte einer der Neandertaler sabbernd. Sannah drehte die evolutionäre Schraube um eine weitere Milliarde zurück. ‚Einzeller‘, dachte sie jetzt und wendete sich zum Gehen.
Die andere Amöbe lachte. „Träum‘ weiter, Jack. Die Kerle von der Rez würden dich nicht mal in ihre Nähe lassen.“
Na, das ließ ja hoffen. Sannah beeilte sich, zum Auto zu kommen und war froh, dass die Einzeller ihr nicht folgten.
Kurze Zeit später passierte sie ein Schild mit der Aufschrift „ENTERING PINE RIDGE INDIAN RESERVATION LAND OF THE OGLALA SIOUX.“ Durch Kaffee und Amöben wieder hellwach, bewältigte Sannah den Rest der Fahrt problemlos. Nur die Zufahrt zur Ranch hätte sie um ein Haar verpasst. Unkraut und Schlaglöcher stritten um die besten Plätze auf der Schotterpiste. Sie war heilfroh über den Geländewagen. Die Zufahrt nahm und nahm kein Ende. Nur die Stromleitung, die neben der Zufahrt an verwitterten Holzmasten hing, verriet ihr, dass irgendwo in der Nähe ein Haus sein musste. In der Umgebung wand sich ein kleiner Creek mäanderförmig durch die Landschaft. Deswegen blieb ihr größtenteils die Sicht durch Bäume und Büsche versperrt. Hinter einer Anhöhe tauchten endlich ein paar Gebäude auf. Das musste die Ranch sein. Im Norden durch eine schroffe Felsformation begrenzt, im Osten und Süden durch die Büsche und Bäume, lag sie versteckt, wie in einer Senke. Nur nach Westen war der Blick frei auf die offene, wogende Graslandschaft. Das Wohnhaus war alt und verwittert. Die Farbe blätterte ab, aber es war allem Anschein nach heil, was hier nicht selbstverständlich war. Auch die große Veranda und der verwilderte Garten waren ungewöhnlich. Die meisten Häuser, die Sannah auf ihrer Fahrt gesehen hatte, waren sogenannte Mobile Homes oder recht baufällige Holzhäuser, die mit Autowracks umstellt waren statt Garten. Bei der Wasserknappheit im Hochsommer wuchs hier ohnehin nicht viel. Hin und wieder sah man einen kleinen Gemüsegarten oder ein Feld, das bewirtschaftet wurde. Neben dem Wohnhaus war ein Hofplatz, dahinter lagen Stallgebäude und ein eingezäunter Reitplatz. Die Stallgebäude waren jüngeren Datums, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht sie zu streichen. Hinter den Gebäuden lagen, nach Westen gelegen, die Weiden, auf denen etliche Pferde in der Sonne standen und grasten. Beim Anblick der Pferde schlug Sannahs Herz schneller vor Freude. Bis auf die Pferde wirkte die Ranch allerdings wie ausgestorben. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Nur ein Truck parkte auf dem Hof. Sannah stellte ihr Auto daneben ab, stieg aus und sah sich um.
Josh saß im Schatten seiner Veranda und beobachtete irritiert die junge Frau, die aus dem Wagen stieg. Das konnte unmöglich der angekündigte Besuch aus Deutschland sein. Aus der näheren Umgebung kam sie aber auch nicht. Er kannte hier jeden und hatte sie noch nie gesehen. Weil sich am Haus nichts rührte, ging die Frau erst einmal zu den Stallgebäuden.
„Mr. White Cloud?“, rief sie fragend. Kein Akzent. Josh konnte nun nicht länger in seiner dunklen Ecke sitzen bleiben und ging widerwillig auf sie zu.
Sannah hörte seine Schritte auf der Veranda und drehte sich um. Der Mann, der auf sie zukam, war gut und gern eins neunzig groß. Er trug Jeans, Stiefel und ein schmutziges Unterhemd. Die langen schwarzen Haare waren zum Zopf zusammengebunden, ein paar Strähnen wehten in sein schmales, kantiges Gesicht. Er bewegte sich mit der Eleganz einer Raubkatze auf sie zu und fixierte sie mit seinen schwarzen Augen. Sein Gesichtsausdruck war finster, und Sannah verspürte das Bedürfnis wegzulaufen. ‚Angriff ist die beste Verteidigung‘, dachte sie und lächelte, als er vor ihr stehen blieb.
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