Unschlüssig, was sie nun tun sollte, wägte sie die Möglichkeiten ab. Warten, bis Josh da war, die Pferde auf der Weide lassen oder sie alleine holen? Da sie nicht wusste, wann Josh wiederkommen würde, und die Tiere Wasser brauchten, fasste sie sich ein Herz und sattelte Kimimila. Sie ritt über die große Weide und hielt Ausschau nach der Herde. Die Weite der Landschaft war atemberaubend. Dr. Schröders Worte fielen ihr wieder ein: Dort gibt es nur Gras und Himmel. Er hatte recht behalten. Dieser Ozean aus Gras vermittelte ihr ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit. Kein Wunder, dass die Lakota so erbittert für diese Freiheit gekämpft hatten. In einiger Entfernung entdeckte sie die Herde und ritt langsam auf sie zu. Sannah umkreiste die Tiere, um sie in Bewegung zu setzen. Es klappte besser, als sie erwartet hatte. Im Zickzack ritt sie hinterher, um eventuelle Ausreißer in Schach halten zu können. Nach einer halben Stunde erreichten sie den Paddock. Sannah schloss das Gatter hinter den Pferden und war stolz wie Oskar. Sie brachte Kimimila zurück auf die kleine Weide und kraulte ihr den Hals. „Feines Mädchen, hast du gut gemacht.“ Die Stute blubberte zufrieden, als Sannah ihr noch eine Möhre ins Maul schob.
Sannah füllte gerade die Tränken, als ein Wagen der Tribal Police auf den Hof fuhr. Ihr Magen krampfte sich zusammen. ‚Hoffentlich ist nichts passiert‘, dachte sie entsetzt. Der Officer, der ausstieg, warf seine Mütze ins Auto und fuhr sich durch sein kurzes schwarzes Haar. Als er sie entdeckte, strahlte er und kam auf sie zu. Sannah entspannte sich. So sah niemand aus, der schlechte Nachrichten brachte. Er hatte ein freundliches Gesicht und stemmte beim Laufen die Hände in die Hüften. Sein Gang erinnerte sie an John Wayne. Ein Bauchansatz wölbte sich über den Bund seiner Uniformhose, ansonsten hatte er in etwa die gleiche Statur wie Josh.
„Hau, ich bin Sam, ein Freund von Josh“, stelle er sich vor.
Sie ergriff seine Hand. „Han, ich bin Sannah. Josh ist nicht da, und ich weiß leider auch nicht, wann er wiederkommt. Kann ich etwas ausrichten?“
Sam strahlte sie fröhlich an. „Eigentlich wollte ich nur mal auf einen Kaffee vorbeischauen und Hallo sagen.“
Sannah lächelte. „Kaffee ist kein Problem. Ich bin hier fertig, muss nur schnell die Kaffeemaschine anwerfen.“ Sie drehte das Wasser ab und räumte den Schlauch weg.
Sam fischte eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche seines Hemdes und zündete sich eine an. Während Sannah in die Küche ging um Kaffee aufzusetzen, wartete er auf der Veranda und schmunzelte vor sich hin. Der Moccasin Telegraph hatte nicht übertrieben. Sie war schön, höflich, freundlich und arbeitete offensichtlich hier. Sam war gekommen, um ein paar Einzelheiten zu erfahren. Sannah kam aus der Küche und stellte Tassen und einen Teller mit frischem Kuchen auf den Tisch. Sam bekam große Augen. „Wow!“, staunte er. „Kuchen hab ich hier noch nie bekommen.“
„Ich auch nicht. Milch und Zucker?“, bot sie an.
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Schwarz wie meine Seele.“
„Schwarz ist er jedenfalls“, stellte sie fest.
„Wo treibt sich der Halunke denn herum?“, wollte Sam wissen und pustete in seine Tasse.
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung“, antwortete sie ratlos.
Kaum stand etwas Essbares auf dem Tisch, fuhr Josh wie bestellt auf den Hof. Er bemerkte erstaunt, dass die Pferde an der Tränke standen und die Stammespolizei da war. Breit lächelnd griff er nach einem Aktenordner und stieg aus dem Auto. Sannah starrte ihn sprachlos an. Er trug ein weißes Oberhemd, eine schwarze Jeans und einen geflochtenen Zopf. Sie hatte ihn bislang nur in Arbeitsklamotten gesehen und war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er sich auch in Schale schmeißen konnte. In diesem Aufzug sah er noch beeindruckender aus. ‚Er hat eine Freundin‘, schoss es ihr durch den Kopf. Wäre aber auch sehr verwunderlich gewesen, wenn ein Mann wie Josh frei herumlief.
„Hau, Kola!“, begrüßte er Sam. „Hat Sannah dich gerufen, oder ist dir der Kaffee ausgegangen?“, fragte er lachend und brachte den Aktenordner ins Haus. Mit einer Tasse kam er wieder heraus und setzte sich neben Sannah. Er sah sie an und grinste frech. „Kaum bin ich einen halben Tag weg, steht der Knüppelträger auf dem Hof und bekommt Kaffee und Kuchen. Sollte mir das zu denken geben?“, frotzelte er gutgelaunt.
Sam fühlte sich irgendwie erwischt. „Ich kam zufällig vorbei und wollte mal sehen, wie es dir geht“, erklärte er mit Unschuldsmiene und trat die Zigarette aus.
Sannah machte sich über den Kuchen her und schlürfte genüsslich ihren Kaffee. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie war. Die beiden Männer griffen auch zu, und für einen Moment herrschte gefräßiges Schweigen.
Josh spülte den Kuchen mit einem Schluck Kaffee hinunter. „Nun mal ehrlich, Sam, du fährst doch nicht den ganzen Weg zu mir raus, weil mein Kaffee so gut ist“, bohrte er weiter.
„Deiner nicht, aber ihrer!“, frotzelte Sam zurück.
Sannah dachte an den „Bodensehkaffee“ vom Morgen und kicherte. Dafür erntete sie ein schiefes Grinsen von Josh.
„Mir sind da ein paar Gerüchte zu Ohren gekommen, und nun wollte ich mal sehen, was an diesen Gerüchten so dran ist“, erklärte Sam weiter.
Josh verdrehte theatralisch die Augen. „Was würden wir alle nur ohne Moccasin Telegraph machen?“, stöhnte er genervt. „Ich sehe schon die Schlagzeilen in der Zeitung. Frauenraub am Wounded Knee Creek!“, proklamierte er mit großer Geste.
Sannah konnte sich kaum noch halten vor Lachen, wogegen Sam sein dienstliches Gesicht aufsetzte. „Frauenraub?“, fragte er ungläubig.
„Klar!“, erwiderte Josh hämisch. „Ich habe die alte Tradition unserer Vorfahren wiederbelebt und sie drüben, in Cheyenne River, aufs Pferd gezerrt. Jetzt muss sie hier arbeiten und meine Jeans flicken.“
Sam schüttelte lachend den Kopf und sah Sannah an. „Wie lautet denn deine Version?“
Sie lachte immer noch und rang mühsam nach Luft. „Ich bin der letzte Mohikaner und arbeite hier als Tellerwäscher.“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und griff nach einem weiteren Stück Kuchen.
Jetzt fing Josh schallend an zu lachen und drohte von der Bank zu rutschen. „Ich dachte, der ist von der Klippe gefallen? Fast so wie er hier.“ Sam deutete höhnisch mit den Lippen auf Josh. Wieder dieses Duckface.
Sannah winkte ab. „Hollywood“, sagte sie verächtlich und kicherte weiter vor sich hin.
Josh rappelte sich mühsam wieder hoch und nahm sich das letzte Stück Kuchen. „Der Kuchen ist gut, aber hattest du gestern nicht was von Pizza gesagt?“, fragte er mit einem anzüglichen Blick.
„Die gibt es nachher“, meinte sie knapp und stand auf, um Nachschub zu holen.
Josh machte keine Anstalten, ihr Platz zu machen, und grinste sie frech an. Sie kletterte umständlich über seine Beine. Sam beobachtete diese kleine Szene amüsiert. Sannah verschwand mit dem Kuchenteller um die Ecke.
„Sannah kommt aus Deutschland und ist Fotografin“, versuchte es Josh jetzt mit der Wahrheit.
Sam warf seinem Freund einen strafenden Blick zu. „Klar! Sieht man auf den ersten Blick. Und wir sind Schweden“, spottete er mit einem ironischen Grinsen.
Sannah kam mit Kaffee- und Kuchennachschub zurück und stellte den Teller demonstrativ auf Sams Seite des Tisches. Zur Strafe für diesen Verrat ließ Josh sie wieder über seine Beine klettern und amüsierte sich köstlich.
„Ich bin keine Fotografin“, korrigierte sie ihn. „Ich bin Unfallchirurgin.“
Josh sah sie erstaunt an. Im Gegensatz zu Sam glaubte er ihr.
„Das wird ja immer exotischer!“, rief Sam mit gespielter Entrüstung.
Mit Sannahs Fassung war es endgültig vorbei. Sie saß hier, mitten in der Valla Pampa eines Reservates, umringt von Taranteln und Giftschlangen, bei Kaffee und Kuchen mit zwei Lakota, und die fanden eine langweilige Touristin aus Deutschland exotisch. Das war für sie so paradox, dass sie Tränen lachte. Josh begriff, warum sie lachte, und konnte nun auch nicht mehr an sich halten.
Читать дальше