Das Orchester auf der Empore hörte zu spielen auf, und Boris Petrowitsch machte ein bedauerndes Gesicht. »Schade, ich hätte stundenlang mit Ihnen weitertanzen mögen. Geben Sie mir Ihre Tanzkarte, Swetlana Pawlowna, und ich trage mich überall ein.«
»Oh, viel ist da nicht mehr frei. Nur noch der Kotillon, die Mazurka und ein paar Tänze nach dem Diner ...«
»... die Sie alle für mich reservieren müssen«, fiel er ihr ins Wort. »Das heißt, natürlich nur, wenn Sie mögen.«
Swetlana nickte und wurde ein wenig rot. »Warum nicht? Sie tanzen sehr gut, Boris Petrowitsch.«
Er brachte sie zu ihren Eltern zurück, die sich immer noch mit der Karessowa unterhielten, und schrieb tatsächlich auf ihrer Tanzkarte überall seinen Namen hin, wo sich noch kein anderer Tänzer eingetragen hatte. Für den nächsten Tanz forderte er Xenia auf und zwinkerte Swetlana dabei vergnügt zu.
»Um Auskünfte einzuholen«, flüsterte er, während Xenia die Hand auf seinen Arm legte und sich dann von ihm zur Saalmitte führen ließ, wo die Paare Aufstellung für eine Polonaise nahmen.
Swetlana hatte diesen Tanz dem Fürsten Leonid Soklow versprochen, der sich gleich, nachdem sie und Xenia dem. Zarenpaar vorgestellt worden waren, recht hartnäckig an ihre Fersen geheftet hatte. Soklow war Mitglied des Reichsrates und, wie es hieß, ein besonderer Freund des Zarenonkels Großfürst Michail Nikolajewitsch, der ein jüngerer Bruder des verstorbenen Zaren Alexander III. und Vorsitzender des Reichsrates war.
Das jedenfalls hatte die Gräfin Lasarowa ihrer Tochter rasch erklärt, nachdem Soklow den ersten Tanz mit Swetlana getanzt hatte.
»Er ist ein sehr einflußreicher Mann«, hatte sie behauptet, »dazu immens wohlhabend. Er könnte jedes junge Mädchen aus guter Familie zur Frau bekommen. Aber er ist noch unverheiratet.«
Die Worte hatten Swetlana nicht sonderlich beeindruckt. Ihr gefiel Leonid Iwanowitsch Soklow nicht, und sie bedauerte insgeheim, daß sie ihm ein paar Tänze zugesagt hatte.
Zwar sah er ausgesprochen gut aus, groß, schlank, mit dunklem, leicht gelocktem Haar und einem scharfgeschnittenen Gesicht. Aber er hatte so merkwürdige goldbraune Augen, deren Blick ihr Unbehagen einflößte.
Jeder, der mit ihr tanzte, hatte Swetlana an diesem Abend Komplimente gemacht, aber Fürst Soklows Schmeicheleien empfand sie als aufdringlich und manchmal sogar zweideutig.
Sie mochte auch nicht, wie er sie beim Tanzen an sich zog und dabei über ihren Rücken strich, ihr mißfiel seine seidenweiche Stimme, mit der er ihr beteuerte, daß sie seit Jahren die schönste Debütantin der Petersburger Gesellschaft sei und daß er sich glücklich schätze, ihr begegnet zu sein.
Darum war sie erleichtert, daß der Tanzmeister während der Polonaise öfter einen Partnerwechsel ansagte, so daß sie ein paar Takte mit einem anderen Mann tanzen konnte.
Glücklicherweise saß Fürst Soklow während des Diners, das um ein Uhr nachts serviert wurde, weit entfernt an einem anderen Tisch, und Swetlanas Tischherr war ein junger Leutnant der Semjonowskijschen Garde, Grischa Sowtschenko, der sehr witzig zu plaudern verstand, so daß sie aus dem Lachen kaum herauskam.
Ach, es war herrlich, im Winterpalais zu dinieren, bewundert zu werden und all die Pracht und Eleganz um sich herum zu genießen!
Das Zarenpaar nahm nicht am Diner teil, sondern ging währenddessen in Begleitung des Oberhofmarschalls Graf Paul von Benckendorff und der Ehrendame Anna Wyrubowa von Tisch zu Tisch, um sich mit den Gästen zu unterhalten.
Zarin Alexandra sah nicht mehr so frisch und blühend aus wie zu Beginn des Balles. Feine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und sie wirkte erschöpft. Dennoch lächelte sie wiederum mit der bei ihr so seltenen offenen Herzlichkeit, als sie noch einmal ein paar Worte mit Swetlana wechselte.
»Ich hoffe, Sie haben viel Freude heute abend«, sagte sie. »Vorhin habe ich Sie eine Zeitlang beobachtet, meine Liebe. Offenbar machen Sie Furore in der Petersburger Gesellschaft – zumindest, was die jungen Herren angeht.«
»Euer Majestät sind sehr gütig«, erwiderte Swetlana, und ein Schatten glitt über das Gesicht der Zarin.
»Nur aufrichtig. Aber seien Sie auf der Hut, Swetlana Pawlowna. Auch hier ist längst nicht alles echt, das wie Gold schimmert. Es verbergen sich viel Hohlheit, Eigennutz und Lasterhaftigkeit hinter der glänzenden Fassade. Lassen Sie sich nicht davon blenden.«
Swetlana wußte nicht recht, was sie darauf erwidern wollte, doch die Zarin erwartete offenbar auch keine Antwort, sondern nickte ihr noch einmal zu.
»Ich werde mich jetzt zurückziehen. Diese Festivitäten strengen mich immer sehr an. Aber ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen.«
Anna Wyrubowa, die hinter ihr stand, eine dickliche Person mit teigigem Gesicht und flinken schwarzen Augen, warf Swetlana einen finsteren Blick zu. »Kommen Sie, Euer Majestät«, sagte sie dann mit einer hellen, singenden Kinderstimme, die in seltsamem Kontrast zu ihrer massigen Gestalt stand. »Es ist spät, und Sie sind müde. Sie sollten sogleich zu Bett gehen.«
»Ja, meine Liebe«, erwiderte Alexandra Fjodorowna und stützte sich auf Annas Arm. »Das Stehen fällt mir schwer. Ich habe wieder Kreuzschmerzen.«
»Sehen Sie, sehen Sie ...« Die Wyrubowa warf einen abschiednehmenden Blick in die Runde. »Aber ich werde beten, daß es Ihnen bald bessergeht. Für meine liebste, teuerste Zarin werde ich die halbe Nacht auf den Knien liegen.«
Damit führte sie Alexandra fort, und Leutnant Sowtschenko stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß nicht, wieso, aber die Wyrubowa kann angezogen sein, wie sie will – auf mich wirkt sie immer wie eine glitschige Nacktschnekke.«
Er hatte die Worte Swetlana zugeflüstert, und sie versteckte hastig ihr Gesicht hinter ihrem Fächer, um ihr Lachen zu verbergen.
Ihre Mutter warf ihr einen irritierten Blick zu. »Was ist, Kind? Hast du dich verschluckt?«
»Beinahe«, erwiderte Swetlana und fächelte sich Luft zu. »Aber es ist noch einmal gutgegangen.«
»Wie kann man sich verschlucken, wenn man nicht ißt«, tadelte Wera Karlowna, verstummte dann aber glücklicherweise, weil der Zar quer durch den Saal auf seine Frau zukam.
»Alix?« fragte er auf englisch. »Was hast du, mein Engel? Geht es dir nicht wohl?«
Alexandra lächelte zu ihm auf, und ihr eben noch angestrengtes Gesicht glättete sich auf wundersame Weise. »Ich bin nur müde, Nicky, weiter nichts. Darum werde ich mich zurückziehen.«
»Natürlich begleite ich dich.« Er wollte ihren Arm nehmen, aber sie winkte ab.
»Nicht nötig. Meine gute Anna Alexandrowna bringt mich in mein Schlafzimmer. Und vorher werde ich noch einmal nach unseren beiden kleinen Mädchen sehen.«
»Gib ihnen einen Kuß von mir«, trug er ihr auf, und sie nickte lächelnd.
»Aber nur, wenn du ihn mir nachher zurückgibst.«
Swetlana hatte das kurze Gespräch mitgehört und empfand Rührung. Es war ganz offensichtlich, daß die beiden einander zärtlich liebten. Es mußte schön sein, eine solche Ehe zu führen.
Bei ihren Eltern war das nicht so. Sie lebten nebeneinander her, ohne große Streitigkeiten zwar, aber auch ohne besondere Zuneigung, und Swetlana hatte sich oft gesagt: So will ich es später einmal nicht haben. Ich heirate nur, wenn ich einen Mann wirklich liebe und er mein Gefühl erwidert. Sonst bleibe ich lieber ledig.
Swetlana wußte, daß ihre Mutter vom heutigen Tag an nach einem geeigneten Ehekandidaten für sie Ausschau halten würde. Tun Sie das nur, Mama, dachte sie. Am Ende nehme ich doch nur den, der mir gefällt. Es ist mein Leben, und ich will es mit allem anfüllen, was schön und aufregend und voller Überraschungen ist.
Zwei Monate später war Swetlana mit Boris Petrowitsch Barschewskij verlobt.
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