Ja, A hat die Monatsfrist des § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO gewahrt, die nach dieser Vorschrift mit der „Bekanntgabe des Verwaltungsakts“, d.h. hier des Aufhebungsbescheids vom 23. Mai, begann. Unabhängig vom tatsächlichen Zugangszeitpunkt (vorliegend: 24. Mai) „gilt“ ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, nach § 41 Abs. 2 S. 1 L-VwVfG „am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben“ (ein Ausnahmefall des § 41 Abs. 2 S. 3 L-VwVfG liegt hier nicht vor). Der Aufhebungsbescheid vom 23. Mai wurde an diesem Tag zur Post gegeben. Der dritte hierauf folgende Tag ist der 26. Mai. Noch bevor die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO einen Monat später, d.h. am 26. Juni, endete (§ 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 f. BGB), hat A am 25. Juni Klage erhoben.
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Hinweis
Aufgrund des Zusammenspiels von Antwort-, Hilfs- und Gegennormen lässt sich namentlich die Frage, ob einer bestimmten Person (z.B. Verkäufer) ein Recht (z.B. Anspruch auf Kaufpreiszahlung) gegen eine andere (z.B. Käufer) zusteht, regelmäßig nichtdurch Anwendung von nur einer Rechtsvorschrift beantworten (z.B. § 433 Abs. 2 BGB, der einen Kaufvertrag voraussetzt; Rn. 31). Vielmehr kann die endgültige Antwort hierauf erst nach Prüfung sämtlicher insoweit einschlägiger (Hilfs- und Gegen-) Normen gegeben werden (z.B. kein Erlöschen des Anspruchs infolge Aufrechnung, § 389 BGB).[82]
Zusammenfassung
Rechtsnormen sind typischerweise nach einem Konditionalprogramm aufgebaut: Die in ihnen jeweils enthaltene Rechtsfolgetritt im konkreten Fall dann ein, wenn in diesem der Tatbestandder betreffenden Rechtsnorm erfüllt ist. Mitunter wird diese Struktur allerdings erst nach entsprechender Aufbereitung (Umstellung, Umformulierung) der jeweiligen Vorschrift sichtbar.
Neben geschriebenen gibt es auch ungeschriebene (positivewie negative)Tatbestandsmerkmale, die sich ggf. auch erst aus anderen Vorschriftenergeben und sowohl kumulativ(„und“) als auch alternativ(„oder“) miteinander verbunden sein können. Ferner kann zwischen bestimmten und unbestimmten sowie zwischen deskriptiven (beschreibenden) und normativen (wertungsabhängigen) Tatbestandsmerkmalen unterschieden werden und knüpfen diese teilweise an äußereund teilweise an innere Tatsachen an.
Ergeben sich aus einer Rechtsnorm selbstständige (z.B. Leistungs-)Rechte bzw. Pflichten, so handelt es sich bei ihr um eine Primärnorm. Demgegenüber werden Antwortnormen, welche die Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Primärnormen regeln (z.B. Schadensersatzpflicht), als Sekundärnormen bezeichnet. Mitunter tritt die in einer Rechtsnorm enthaltene Rechtsfolge jedoch trotz Vorliegens der jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen nicht zwingend ein (so aber im Fall einer gebundenen Entscheidung), sondern verfügt der Normanwender (z.B. Behörde) über ein dahingehendes Ermessen, „ob“ er im konkreten Fall überhaupt eine der nach dem Gesetz in Betracht kommenden Rechtsfolgen setzt (Entschließungsermessen) und bejahendenfalls, „wie“ diese genau ausgestaltet ist (Auswahlermessen).
Die von einer Antwortnorm grundsätzlich angeordnete Rechtsfolge tritt im konkreten Fall allerdings dann nicht ein, wenn in diesem eine Gegennormeinschlägig ist (z.B. rechtsverhindernde, -vernichtende oder -hemmende Einwendung bzw. Einrede).
Normen, die bei der Anwendung einer anderen Rechtsnorm helfen, sind zum einen Legaldefinitionen, mit denen der Gesetzgeber die Bedeutung des in einer anderen Vorschrift verwendeten Begriffs verbindlich festlegt (z.B. § 194 Abs. 1 BGB: „Anspruch“).
Zum anderen gehören auch Verweisungsnormen zu den sog. Hilfsnormen: Soll die Rechtsfolge von § Z, auf den § X verweist, nur dann eintreten, wenn zusätzlich zum Tatbestand von § X auch noch derjenige von § Z verwirklicht ist, so handelt es sich um eine Rechtsgrundverweisung. Demgegenüber tritt die in § Z enthaltende Rechtsfolge im Fall einer Rechtsfolgenverweisungbereits dann ein, wenn allein der Tatbestand der hierauf verweisenden Rechtsnorm (§ Y) erfüllt ist. Verweist eine Vorschrift auf eine andere in einer ganz bestimmten zeitlichen Fassung, so spricht man von einer statischen Verweisung. Hingegen wird im Fall einer dynamischen Verweisungauf die im Zeitpunkt der jeweiligen Rechtsanwendung geltende (aktuelle) Fassung der verwiesenen Vorschrift Bezug genommen (inkl. etwaiger zwischenzeitlicher Änderungen).
Eine weitere Art von Hilfsnormen sind schließlich gesetzliche Vermutungen, mit denen der Gesetzgeber Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsermittlung begegnet. Entspricht die bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen eintretende gesetzliche Vermutung nicht den wirklichen Tatsachen, so ist nur bei einer widerleglichen Vermutungder Beweis des Gegenteils zulässig, nicht dagegen im Fall einer unwiderleglichen Vermutung. Während bei der Letztgenannten der vermutete Tatbestand möglicherweise auch tatsächlich gegeben ist, liegt dieser im Fall einer gesetzlichen Fiktionmit Sicherheit nicht vor.
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[1]
Von lat. „imperare“ = „befehlen“. Abweichende Terminologiebei Muthorst , Grundlagen, § 5 Rn. 4 a.E.
[2]
Häufig – aber nicht immer (siehe Rn. 9) – korrespondiert mit der Pflicht des einen (z.B. des Käufers zur Zahlung des Kaufpreises, § 433 Abs. 2 BGB) ein (subjektives) Rechteines anderen (z.B. der Kaufpreisanspruch des Verkäufers), siehe Schmalz , Methodenlehre, Rn. 7. Dort (Rn. 4) auch zu Obliegenheiten(z.B. Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 BGB), deren Einhaltung zwar nicht einklagbar ist, aber bei Zuwiderhandeln zu einem Rechtsnachteil beim Verpflichteten führt (z.B. Kürzung/Verlust des Schadensersatzanspruchs).
[3]
Strafvorschriften enthalten zumeist unbedingte Rechtsgebote, d.h. absolute Verbot(z.B. § 212 Abs. 1 StGB), vgl. Zippelius , Methodenlehre, S. 23; Börner , Jura 2014, S. 1258 (1259). Bei Letzterem auch zu Erlaubnissen (die wie z.B. § 32 StGB etwas für zulässig erklären, ohne dass man es tun müsste) neben Ge- und Verboten als dritter Form von Normen. Ebenso Staake , Jura 2018, S. 661 (664). Dort auch zur Freistellung(Dispens, z.B. § 31 Abs. 2 BauGB) als vierter Normkategorie. Siehe auch Rn. 6, 8.
[4]
Zu Rechtsprinzipiensiehe Rn. 115.
[5]
Muthorst , Grundlagen, § 5 Rn. 29, § 13 Rn. 81; Larenz/Canaris , Methodenlehre, S. 71; Schmalz , Methodenlehre, Rn. 2, 11, 53; Schwacke , Methodik, S. 22; Staake , Jura 2018, S. 661 (663).
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