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Nach § 3d Abs. 2 S. 1 AsylG können die genannten Institutionen aber nur dann Schutz gewähren, wenn der Schutz vor Verfolgung tatsächlich wirksam und nicht nur vorübergehender Natur ist. Wann dies der Fall ist, konkretisiert § 3d Abs. 2 S. 2 AsylG. Im Rahmen der behördlichen Entscheidung kommt es insofern darauf an, dass insbesondere die Funktionsweise der Institutionen und die Anwendung der grundlegenden Menschenrechte überprüft wird.
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Grundsätzlich gilt als verfolgt nur derjenige, den die Verfolgungshandlungen unmittelbar getroffen haben oder treffen bzw. treffen sollen. Demnach können z.B. Familienangehörige nur dann Opfer von Verfolgung sein, wenn sie wegen der Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe (wie der Schutzsuchende) ebenfalls der Verfolgung ausgesetzt sind. Entsprechend ist auch die Rechtsprechung zur Gruppenverfolgung im Rahmen des Art. 16a Abs. 1 GG auf den Flüchtlingsschutz übertragbar. Gehört der Verfolgte zu einer Gruppe, deren Mitglieder teilweise bereits Opfer von Verfolgungshandlungen wurden, so ist auch jedes andere Mitglied als (zumindest potentielles) Verfolgungsopfer anzusehen.[10]
Hinweis
Auf Grund des Wortlautes des § 3 Abs. 1 AsylG ist der Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag für die Beurteilung der Frage nach der Verfolgung maßgeblich. Besteht zu diesem Zeitpunkt eine Furcht vor Verfolgung, so ist dies zu berücksichtigen, selbst wenn der Flüchtende sein Heimatland zu einer Zeit verlassen hat, zu der diese Furcht noch nicht bestand (sog. Flüchtling-sur-place).[11]
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Damit eine Schutzbedürftigkeit besteht, bedarf es nicht nur der begründeten Furcht vor Verfolgung. Darüber hinaus muss es dem Betroffenen auch verwehrt sein, in seinem Heimatstaat Schutz zu erlangen. Dieses Merkmal entspringt dem völkerrechtlichen Gedanken, dass Staaten auf Grund ihrer Souveränität über Territorium und Volk Garant für deren Bestand und Sicherheit sind, bevor dann, quasi subsidiär, Schutz in anderen Staaten beansprucht werden kann. Erfolgt die Verfolgung gerade durch die Institutionen des Verfolgerstaates, so ist eine Schutzlosigkeit grundsätzlich anzunehmen. Anders lässt sich dies aber unter Umständen beurteilen, wenn die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht.[12]
Beispiel
Bereits im Rahmen des Asylgrundrechts hatten wir das Beispiel erörtert, indem es dem Flüchtenden grundsätzlich möglich ist, in andere Teile seines Heimatstaates zu fliehen (inländische Fluchtalternative, Rn. 88). Gleiches gilt auch hier im Rahmen der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft.
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Eine Furcht im Sinne der Definition aus § 3 Abs. 1 AsylG meint die subjektive seelische Verfassung des Betroffenen, die sodann begründet, also durch objektive Tatsachen gerechtfertigt sein muss.[13] Bei der Beurteilung dieses Umstandes hat sich eine subjektiv-objektive Betrachtungsweise durchgesetzt. Nach dieser kommt es darauf an, ob in Anbetracht der objektiven Umstände bei einem vernünftig denkenden und besonnenen Menschen in der Lage des Flüchtenden eine Verfolgungsfurcht hervorgerufen werden kann.[14] Indizien für die Beurteilung dieser Frage können dabei sowohl eine bereits (nachweislich) erlittene persönliche Verfolgung oder die bereits stattfindende Verfolgung von Verwandten oder Angehörigen (welche auf eine Gruppenverfolgung hinweist) darstellen.
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Lesen Sie die zitierte Norm!
In diesem Zusammenhang ist auch der sogenannte interne Schutz bzw. inländische Fluchtalternative zu beachten (vergleichen Sie die Ausführungen oben, Rn. 88). Bezieht sich die Furcht vor Verfolgung nicht auf das gesamte Staatsgebiet des Herkunftsstaates, bestehen also Fluchtmöglichkeiten innerhalb des Territoriums dieses Staates, so befindet sich der Flüchtende gerade nicht wegen seiner Furcht vor Verfolgung im Ausland. Für diesen speziellen Fall ist aber § 3e AsylG zu beachten. Als einschränkendes Kriterium wird nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG darauf abgestellt, ob von dem Flüchtenden vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in dem sicheren Teil seines Herkunftslandes niederzulassen.[15]
Hinweis
Dies kann aber dann nicht erwartet werden, wenn in diesem Gebiet eine Hungersnot herrscht (es mangelt bereits am wirtschaftlichen Existenzminimum). Allerdings ist dies wiederum kein tauglicher Ausschlussgrund, sofern die Hungersnot im gesamten Herkunftsstaat wütet, denn die Hungersnot per se ist kein Verfolgungsgrund.[16]
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Dementsprechend ist eine umfangreiche Sachverhaltsaufklärung nötig, die regelmäßig auch eine Prognoseentscheidung erforderlich macht. Allerdings sind die zuständigen Stellen hierbei in ihrer Entscheidung nicht völlig frei. Um willkürliche Entscheidungen zu verhindern, müssen diese nachvollziehbar sein. Trotz des grundsätzlich gewährten Entscheidungs- und Prognosespielraums der zuständigen Stellen muss eine gerichtliche Überprüfung möglich sein. Auf Grund dessen ist dann aber die Frage zu klären, welchen Maßstab man zur Entscheidung heranzieht. Nach der Rechtsprechung des BVerwG kommt es auf eine Verfolgung des Betroffenen mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Schutzantrag an.[17]
URIQ-Klausurtipp
Beachten Sie den Zeitpunkt, auf den die Rechtsprechung abstellt. Es kommt gerade nicht auf den Zeitpunkt der Flucht aus dem Herkunftsland an, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung im Verwaltungsverfahren über den Schutzantrag
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Der Versuch, das Merkmal der beachtlichen Wahrscheinlichkeit mit statistischen Werten zu untermauern, wurde mittlerweile aufgegeben. Eine von der Rechtsprechung entwickelte Praxis, eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 50% zu fordern (inhaltliche Gleichsetzung einer beachtlichen mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit) wurde auf Grund der rein objektiven Betrachtungsweise wieder aufgegeben.[18] Letztlich ist jeder Fall so individuell, dass die objektiven Faktoren nur einen Aspekt der finalen Entscheidung sein können und somit in eine Gesamtabwägung einfließen müssen. Insoweit hat sich die nationale Rechtsprechung auch der des EGMR angepasst. Dieser fordert innerhalb einer Gesamtabwägung ein „real-risk of being subjected to treatment“.[19]
Hinweis
Vor diesem Hintergrund ist die Lektüre von Literatur und Rechtsprechung vor dem 1.12.2013 mit Blick auf die Definition von begründeter Furcht mittlerweile veraltet. Vor dem genannten Stichtag enthielt der Gesetzestext des § 3 Abs. 1 AsylG den Zusatz „aus begründeter Furcht“ nicht. Demnach war eine rein objektive Betrachtungsweise ausdrücklich maßgeblich, weil als Flüchtling derjenige angesehen wurde, der Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt war. Diese Interpretation des Fluchtbegriffs stand aber im Widerspruch zur GFK und dem Unionsrecht. Durch die nationale Gesetzesänderung wurde mit dem oben genannten Stichtag eine subjektiv-objektive Betrachtungsweise eingeführt.[20]
3. Aufenthalt außerhalb des Herkunftslandes
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Bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft spielt das Herkunftsland des Betroffenen eine wesentliche Rolle. Damit eine Schutzbedürftigkeit überhaupt entstehen kann, muss der Betroffene sein Herkunftsland aber zunächst verlassen. Eine Asylantragsstellung in Deutschland aus einem anderen Land heraus ist nicht statthaft.
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In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, ob ein Schutzsuchender nicht einen Asylantrag in einer deutschen Botschaft in seinem Herkunftsland stellen kann. Dem steht aber das Territorialprinzip entgegen. Dieses ermöglicht es jedem Staat, über sein Herrschaftsgebiet zu verfügen. Ist ein Flüchtling in sein Herrschaftsgebiet geflohen, kann er ihm, entsprechend seiner Souveränität im Bezug zu anderen Staaten, Asyl gewähren. Hier zeigt sich die völkerrechtliche Dimension, da dem Verfolgerstaat der Zugriff auf den Flüchtling verwehrt wird. Eine diplomatische Behörde innerhalb des Territoriums des Verfolgerstaates befindet sich aber gerade nicht im Herrschaftsgebiet des Fluchtstaates. Beansprucht der Fluchtstaat dem zum Trotz das Gebiet der Botschaft als sein Staatsgebiet und gewährt einem Flüchtenden dort Asyl, so greift er in die Souveränität des Verfolgerstaates ein. Ein solcher Eingriff ist völkerrechtlich jedoch nicht akzeptiert, weshalb eine Schutzgewährung durch eine ausländische Botschaft im Herkunftsstatt nicht möglich ist.[21]
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