(3) Juristische Personen des Öffentlichen Rechts
(a) Grundsatz
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Die Grundrechte binden gemäß Art. 1 Abs. 3 GG die gesamte (deutsche) öffentliche Gewalt. Demzufolge sind juristische Personen des öffentlichen Rechts (Körperschaften des öffentlichen Rechts, Anstalten und Stiftungen), die hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, nicht grundrechtsfähig. Hierzu gehören etwa kommunale Gebietskörperschaften (Länder, Kommunen oder Gemeinden),[12] öffentlich-rechtliche Sparkassen,[13] Innungen nach der Handwerksordnung, gesetzliche Krankenkassen,[14] Rentenversicherungsträger[15] etc.
Beispiel
Die Gemeinde H liegt in der Nähe eines genehmigten Planungsgebiets für Braunkohletagebau in NRW. Der Gemeinderat beschließt, dass sich die Gemeinde zur generellen Gegnerin von Braunkohle als Energiequelle erklärt. Stattdessen will sich die Gemeinde für erneuerbare Energien einsetzen. Die Rechtsaufsichtsbehörde beanstandet den Beschluss des Gemeinderates. H fühlt sich in ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG verletzt. Zu Recht? – Eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG kommt nur in Betracht, wenn H Träger von Grundrechten ist. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist H Teil der Exekutive, so dass sie sich nicht auf Grundrechte berufen kann. Sie fühlt sich demnach zu Unrecht in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG verletzt.
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Dass juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig sind, hat das Bundesverfassungsgericht ursprünglichdamit begründet, es sei mit dem Wesen der Grundrechte unvereinbar, wenn die öffentliche Gewalt gleichzeitig Träger und Adressat von Grundrechten sei (sog. Konfusionsargument).[16] Hiergegen ist in der Literatur jedoch eingewendet worden, die öffentliche Gewalt stelle keinen monolithischen Block dar; vielmehr könnten juristische Personen des öffentlichen Rechts in unterschiedlichen Rechtspositionen durchaus Träger einerseits von Rechten und andererseits von Pflichten sein.[17] In seiner jüngeren Rechtsprechungstellt das Bundesverfassungsgericht zur Begründung der fehlenden Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts auf die Funktioneiner juristischen Person des öffentlichen Rechts ab und führt dazu aus, die juristische Person handele aufgrund gesetzlicher Zuständigkeiten und nicht in Wahrnehmung von Freiheit. Bei einem Übergriff durch ein anderes Organ der öffentlichen Gewalt gehe es der Sache nach daher um einen Kompetenzkonfliktund nicht um einen Eingriff in subjektive Rechte.[18]
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Der Grundsatz, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig sind, gilt jedoch nicht ausnahmslos; vielmehr sind drei Ausnahmenanerkannt, die Sie unbedingt kennen müssen:
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Die erste Ausnahme betrifft die Geltung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG und der übrigen Justizgrundrechte (s.u. Rn. 655 ff.).[19]
Beispiel
Die Stadt B baut einen neuen Bahnhof. Die mit der Projektplanung beauftragten Architekten berechnen die Statik des Vordachs versehentlich falsch. Infolge dieses Fehlers stürzt das Vordach kurz vor der Eröffnung des Bahnhofs ein. Die Stadt B nimmt die Architekten gerichtlich in Anspruch. – Um ihre zivilrechtlichen Ansprüche gegen die Architekten gerichtlich verfolgen zu können, kann sich die Stadt B z.B. auf die auch für sie geltende Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG berufen.
(bb) Juristische Personen des öffentlichen Rechts im formellen Sinne
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Die zweite Ausnahme betrifft die Geltung der Grundrechte zugunsten sog. juristischer Personen des öffentlichen Rechts im formellen Sinne. Ihnen wird der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen, ohne dass sie jedoch hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Gerade weil sie keine hoheitlichen Aufgabenwahrnehmen, kann ihnen die Grundrechtsfähigkeit nicht abgesprochen werden.
Beispiel
Eine juristische Person des öffentlichen Rechts im formellen Sinne ist das Bayerische Rote Kreuz. Es ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die jedoch keine hoheitlichen Aufgaben wahrnimmt.
(cc) Grundrechtsdienende juristische Personen des öffentlichen Rechts
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Die wohl bekannteste und wichtigste Ausnahme betrifft die Geltung bestimmter Grundrechte zugunsten sog. „grundrechtsdienender“ juristischer Personen des öffentlichen Rechts. Diese juristischen Personen nehmen gesetzlich zugewiesene Aufgaben wahr, die einem unmittelbar durch bestimmte Grundrechte zugewiesenen Lebensbereich zuzuordnen sind. In diesem Bereich dienen die juristischen Personen des öffentlichen Rechts der Grundrechtsverwirklichung des Einzelnen und verteidigen die Grundrechte in einem Bereich, in dem sie gegenüber der öffentlichen Gewalt eigenständig und unabhängig sind.[20] Da sie sich insoweit in einer sog. grundrechtstypischen Gefährdungslagebefinden,[21] können sie sich auf das betreffende Freiheitsrecht berufen.
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Zu den grundrechtsdienenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehören zum einen die staatlichen Universitätensowie deren Fakultäten.
Beispiel
Staatliche Universitäten, die u.a. die freie wissenschaftliche Betätigung der dort Tätigen gewährleisten sollen, sind Träger des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 2 GG und können grundsätzlich Eingriffe in ihre organisatorischen Strukturen abwehren, die einer freien wissenschaftlichen Betätigung entgegenstehen.[22]
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Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstaltenkönnen sich auf das Grundrecht auf Rundfunkfreiheit[23] und auf das mit ihr in funktionellem Zusammenhang stehende Fernmeldegeheimnis[24] berufen.
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Religionsgesellschaften mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts(Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV) können sich auf das Grundrecht auf Glaubensfreiheit berufen.[25]
Hinweis
Die dritte Ausnahme, die partielle Grundrechtsfähigkeit grundrechtsdienender juristischer Personen des öffentlichen Rechts, ist ein Klassiker in Prüfungen! Wichtig ist, dass Sie erklären können, warum es diese Ausnahmen gibt. Dies gilt umso mehr, als mittlerweile die Tendenz zu beobachten ist, dass es zu Erweiterungen dieser Ausnahme kommen könnte.
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Eine solche Erweiterung steht für Landesmedienanstaltenim Hinblick auf das Grundrecht auf Rundfunkfreiheit zur Diskussion.[26] Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage der Grundrechtsberechtigung von Landesmedienanstalten in Bezug auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 2 GG bislang allerdings – soweit ersichtlich – offen gelassen.[27]
JURIQ-Klausurtipp
Seien Sie in der Fallbearbeitung äußerst vorsichtig, den Kreis der grundrechtsdienenden und damit partiell grundrechtsfähigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu erweitern. Jedenfalls müssen Sie gute Argumente liefern, um eine solche Erweiterung begründen zu können. Denken Sie dabei insbesondere an das Erfordernis einer grundrechtstypischen Gefährdungslage. Keinesfalls dürfen Sie die Grundrechtsfähigkeit allein deshalb bejahen, weil die juristische Person des öffentlichen Rechts generell rechtsfähig ist (eine Universität kann z.B. privatrechtlich Eigentum erwerben).
b) Grundrechtsberechtigung
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