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Betrifft die beabsichtigte Umstrukturierung einen gemeinsamen Betriebmehrerer Unternehmen, die jeweils nicht mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigen, ist die Bestimmung der Schwellenwerte umstritten. Problematisch ist dabei insbesondere die Situation, dass nur eines der beteiligten Unternehmen die erforderliche Größe hat, die Mitarbeiterzahlen der anderen jedoch unterhalb des Schwellenwertes liegen.
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Für die frühere Regelung des § 111 BetrVG a.F., die insoweit noch auf die Größe des „Betriebs“ abstellte, hat das BAG die Auffassung vertreten, dass für die Bestimmung der regelmäßig Beschäftigten auf die Gesamtzahl der im Gemeinschaftsbetriebbeschäftigten Arbeitnehmer abzustellen sei.[23] Auch sollte dann, wenn eine Betriebsänderung Kleinbetriebe i.S.d. § 111 Satz 1 BetrVG betraf, die einem größeren Unternehmen angehörten, dann ein Mitbestimmungsrecht gemäß §§ 111 ff. BetrVG a.F. bestehen, wenn sich die wirtschaftliche Maßnahme betriebsübergreifend auf mehrere Betriebe des Unternehmens erstreckte und sie in die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats fiel.[24]
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Nach der Änderung des Wortlauts des § 111 BetrVG von „Betrieb“ zu „Unternehmen“ durch das Gesetz zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes am 28.7.2001[25] ist für diese Ansicht an sich kein Raum mehr.
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In der Literatur wird daher zum Teil davon ausgegangen, dass es stets ausschließlich auf die jeweilige Unternehmensgröße ankommt.[26] Erreicht kein Unternehmen für sich genommen den Schwellenwert, scheidet danach eine Mitbestimmung nach § 111 BetrVG aus.[27] Darauf, ob der Schwellenwert insgesamt überschritten wird, kommt es dann nicht an. Überschreitet nur ein Unternehmen den Schwellenwert, besteht nur diesem gegenüber das Beteiligungsrecht des Betriebsrats.[28]
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Das LAG Berlin und das LAG Düsseldorf [29] sowie ein Teil der Literaturwollen es für eine Anwendung der §§ 111 ff. BetrVG hingegen genügen lassen, dass der Schwellenwert nur bei einer Zusammenrechnung der Beschäftigtenzahlen der an dem gemeinsamen Betrieb beteiligten Unternehmen erreicht wird. Zur Begründung verweisen die Befürworter dieser Ansicht u.a. darauf, dass der Gesetzgeber keine Schlechterstellung der Arbeitnehmer gewollt habe.[30]
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Das BAGhat diese Frage bislang offen gelassen. In der Entscheidung vom 12.11.2002[31], in der es um die Reichweite der Haftung aus einem im gemeinsamen Betrieb abgeschlossenen Sozialplans ging, hat das BAG allerdings festgehalten, dass mehrere einen Gemeinschaftsbetrieb führende Unternehmen in Sozialplänen freiwillig die gesamtschuldnerische Haftung für Abfindungsansprüche der in dem Gemeinschaftsbetrieb beschäftigten Arbeitnehmer vereinbaren „können“. Sie sind hierzu nach Ansicht des Gerichts nicht verpflichtet. Zugleich hat das Gericht ausgeführt, es „liege die Annahme nahe“, dass im Falle einer die gesamte Belegschaft eines Gemeinschaftsbetriebs betreffenden Betriebsänderung jedenfalls über einen Interessenausgleich regelmäßig sinnvoll nur mit der Gemeinschaft der den Betrieb führenden Unternehmen verhandelt werden könne. Es gehe insoweit um das Schicksal des gesamten Betriebs. Es möge – so das BAG – auch manches dafür sprechen, dass sich in einem solchen Fall beim Unterbleiben des Versuchs eines Interessenausgleichs der durch § 113 Abs. 3, Abs. 1 BetrVG zwingend vorgeschriebene Anspruch der betroffenen Arbeitnehmer auf den Nachteilsausgleich nicht nur gegen ihren Vertragsarbeitgeber, sondern gegen alle den Betrieb gemeinschaftlich führenden und daher für den Interessenausgleich verantwortlichen Unternehmen richte. Da dies jedoch nicht entscheidungserheblich war, hatte das Gericht hierüber nicht abschließend zu befinden.
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Die seitens des Gerichts vorgenommene Unterscheidung zwischen der Verpflichtung der am gemeinsamen Betrieb beteiligten Unternehmen, gemeinsam einen Interessenausgleich zu versuchen und der Verpflichtung des Vertragsarbeitgebers, der den Schwellenwert überschreitet, einen Sozialplan abzuschließen, wird von einer starken Ansicht im Schrifttum befürwortet. Dabei wird die Pflicht, einen Interessenausgleich zu versuchen, bereits dann bejaht, wenn der Schwellenwert von „in der Regel“ 20 beschäftigen Arbeitnehmern im gemeinsamen Betrieb überschritten wird.[32] Hierfür spricht, dass im gemeinsamen Betrieb alle Arbeitgeber gemeinsam verpflichtet sind, im Rahmen der einheitlichen Leitung auch die Beteiligungsrechte des Betriebsrats zu wahren.[33]
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In der Praxis dürfte es sich – auch zur Vermeidung etwaiger Nachteilsausgleichsansprüche – bis zu einer abschließenden Entscheidung des BAG empfehlen, diese Ansicht zugrunde zu legen. Dann genügt es für die Pflicht, einen Interessenausgleichzu „versuchen“, wenn die Gesamtzahl der regelmäßig Beschäftigten im gemeinsamen Betrieb insgesamt über 20 liegt.
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In Bezug auf den Abschluss des Sozialplanssprechen allerdings gute Gründe dafür, nach der Anzahl der Arbeitnehmer des jeweils betroffenen Unternehmens zu differenzieren,[34] und zwar insbesondere der gesetzgeberisch verfolgte Zweck, kleinere Unternehmen vor den finanziellen Belastungen des Sozialplans zu schützen.[35] Eine Schlechterstellung der Arbeitnehmer kleinerer Trägerunternehmen kann hierin nicht gesehen werden. Sie werden insoweit nicht anders behandelt als andere Arbeitnehmer, die in Unternehmen mit regelmäßig weniger als 21 Arbeitnehmern beschäftigt sind. Kommt es hier zu Maßnahmen i.S.d. § 111 Satz 3 Nrn. 1 bis 5 BetrVG scheitert ein Mitbestimmungsrecht auch in diesen Fällen an dem Schwellenwert gem. § 111 Satz 1 BetrVG. Auch das BAG hat in der Entscheidung vom 12.11.2002 deutlich gemacht, dass etwaige Sozialplanansprüchesich grundsätzlich nur gegen den vertraglichen Arbeitgeber richten, soweit nicht ausnahmsweise eine gesamtschuldnerische Inanspruchnahme vereinbart ist.[36] Vor diesem Hintergrund sprechen gute Gründe dafür, dass insoweit allein die Beschäftigtenzahl des Vertragsarbeitgebers maßgeblich ist.
b) Wesentliche Nachteile für die Arbeitnehmer
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Das Vorliegen einer beteiligungspflichten Betriebsänderung setzt nach dem Wortlaut des § 111 Satz 1 BetrVG voraus, dass wesentliche Nachteilefür die oder zumindest erhebliche Teile der Belegschaft entstehen können.
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Soweit eine Betriebsänderung i.S.d. § 111 Satz 3 BetrVG vorliegt, wird der Eintritt solcher Nachteile indes fingiert, ist also nicht gesondert zu prüfen. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach Satz 3 nicht den Begriff der „Betriebsänderung“ schlechthin definiert, sondern den der „Betriebsänderung i.S.d. Satzes 1“.[37] Es gilt damit die unwiderlegliche Vermutung, dass die im Katalog des Satzes 3 genannten Fälle wesentliche Nachteile für die Belegschaft mit sich bringen. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates bei einer Betriebsänderung entfallen daher nicht deshalb, weil im Einzelfalle solche wesentlichen Nachteile nicht zu befürchten sind.[38] Ob ausgleichs- oder milderungswürdige Nachteile entstehen oder entstanden sind, ist bei der Aufstellung des Sozialplans zu prüfen und notfalls von der Einigungsstelle nach billigem Ermessen zu entscheiden (vgl. dazu Rn. 165 ff.).
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Der Relativsatz in § 111 Satz 1 BetrVG hat nach der Rechtsprechung des BAG jedoch insoweit eine Bedeutung, als er bei der Auslegungder im Katalog des § 111 Satzes 3 BetrVG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe wie „wesentliche“ Betriebsteile in den Nrn. 1 und 2 oder „grundlegend“ in den Nrn. 4 und 5 heranzuziehen ist und bei der Prüfung, ob eine Betriebsänderung i.S. dieses Kataloges vorliegt, in Zweifelfällen als „ein Stück Gesetzesbegründung“ das Anliegen des Gesetzgebers deutlich macht.[39]
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