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Die Fokussierung auf den Begriff der Unternehmenskriminalität lenkt den Blick auf deren typischen Merkmale, die zunächst darin bestehen, dass der Eingliederung von Individuen in eine Organisation offenbar kriminogene Wirkung zukommen kann.[13] Jedenfalls hatte bereits Sutherland festgestellt, dass in den von ihm untersuchten Unternehmen unabhängig von der Personalfluktuation bestimmte Formen der Kriminalität persistent blieben und damit nicht allein mit der konkreten Person des Täters erklärt werden konnten.[14] Sutherland sah hierin das Wirken jener kommunikativen Netzwerke, die, über nach Art, Häufigkeit, Dauer, Priorität und Intensität unterscheidbare differentielle Assoziationen, in kriminogene Lernprozesse einmünden. Das berühmte Experiment von Milgram belegte später, in welchem Ausmaß Durchschnittsmenschen bereit waren, autoritären Anweisungen zu folgen, selbst wenn diese Handlungen in eklatantem Widerspruch zu ihrem Gewissen standen: Trotz immer stärkerer Schmerzensäußerungen versetzten die nichtsahnenden Probanden einer vermeintlichen Versuchsperson auf Anweisung weitere Stromschläge, um sie bei Fehlern zu bestrafen.[15] Schließlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Unternehmen durch Arbeitsteilung geprägt sind, womit Information, Entscheidung und Handlung anders als in Konstellationen der Alltagskriminalität nicht in ein und derselben Person zusammenfallen, sondern auf verschiedene Mitarbeiter verteilt sind. Dieser Effekt verstärkt sich dadurch, dass moderne Unternehmen immer weniger durch hierarchische, sondern durch heterarchische Organisationsstrukturen geprägt werden, wodurch Verantwortlichkeitszusammenhänge für den einzelnen Unternehmensangehörigen möglicherweise weniger deutlich sind. Insofern mag es zu Verantwortungsdiffusionen kommen, die nicht einmal intendiert sein müssen.
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Lässt man diese Aspekte Revue passieren, ergibt sich hieraus ein nahe liegendes Präventionsdefizit des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, da die verhaltenssteuernde Wirkung des tatbestandlichen Normappells entweder ins Leere geht oder sich zumindest abschwächt.[16] Indes können diese Effekte nur bedingt über klassische Kriminalitätstheorien erklärt werden, die vor allem mit Blick auf Jugend-, Gewalt- oder konventionelle Eigentums- und Vermögenskriminalität entwickelt wurden, auch wenn ihnen für Einzelaspekte ein gewisser heuristischer Wert zukommt.[17] Selbstverständlich könnte man den auf Unternehmen lastenden Druck zur Erzielung von Gewinnen mit der Anomietheorie Mertonscher Prägung erklären, wenn man Unternehmenskriminalität aus einem Gegensatz zwischen kultureller (im hier interessierenden Zusammenhang bedeutete dies: „Gewinnmaximierung“) und sozialer Struktur (im hier interessierenden Zusammenhang: „Gleiche Verteilung von Chancen, mit legalen Mitteln Gewinne zu erzielen“) erklärt und im Interesse des Unternehmens begangene Straftaten und Ordnungswidrigkeiten als eine der Möglichkeiten interpretiert, einem solchen Druck („Strain“) zu begegnen.[18] Denn hier würde ein gesellschaftlich als illegitim erachtetes Mittel (kriminelles Verhalten) zur Erreichung eines gesellschaftlich als legitim erachteten Zieles (Gewinn) eingesetzt, was innerhalb der Theorie mit dem Begriff der „Innovation“ umschrieben wird. Indes hatte Merton allein den auf Individuen lastenden „Strain“ vor Augen, der dann als Erklärung für Formen vor allem konventioneller Kriminalität fungierte, weshalb ein solcher Erklärungsansatz nicht ohne Weiteres für die Erklärung überindividueller sozialer Phänomene taugt. Ebenso könnte man die kriminogene Wirkung der Eingliederung in die Unternehmensorganisation im Sinne von Theorien der Subkultur bzw. Neutralisationstechniken erklären: Basieren beide Ansätze wie die Anomietheorie auf einem Gegensatz zwischen kultureller und sozialer Struktur, könnte Unternehmenskriminalität in der Weise gedeutet werden, dass entweder eine der auf die Einhaltung straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Vorgaben ausgerichteten Hauptkultur entgegengesetzte Subkultur herausgebildet wird, die Normverstöße als Instrument wirtschaftlicher Zielerreichung akzeptiert.[19] Oder bei grundsätzlichem Einverständnis in Bezug auf straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlicher Vorgaben werden im Interesse des Unternehmens begangene Normverstöße im Einzelfall akzeptiert, weil der jeweilige Normappell aufgrund des Wettbewerbsdrucks oder des Erhalts von Arbeitsplätzen neutralisiert wird.[20] Ungeachtet ihres heuristischen Potentials wird man sich aber auch hier vergegenwärtigen müssen, dass diese Ansätze in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts zur Erklärung jugendlicher Gang-Kriminalität in US-amerikanischen Großstädten entwickelt wurden, was erst einmal wenig mit in Unternehmenszusammenhängen begangenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu tun hat. Ähnliches lässt sich neueren Ausprägungen des Rational Choice-Ansatzes entgegenhalten,[21] die das Unternehmenswirken als Aggregation von Einzelentscheidungen der Mitarbeiter und das Unternehmen als korporativen Akteur verstehen, der mit einem „Bewusstsein“ sowie einem „Entscheidungs- und Handlungszentrum“ ausgestattet sei.[22] Eine solche Interpretation läuft auf eine Anthropomorphisierung von Unternehmen hinaus und blendet den Umstand aus, dass ein Unternehmen mehr als die Summe seiner Einzelteile darstellt und straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlich relevantes Unternehmenswirken nicht ohne Weiteres aus der bloßen Addition einzelner Informationen, Entscheidungen und Handlungen von Unternehmensangehörigen erklärbar ist.[23] Vor diesem Hintergrund erlangt die autopoietische Systemtheorie Bedeutung, die in Gestalt des Emergenzbegriffs von vornherein davon ausgeht, dass jedes „Soziales“ in Gestalt sozialer Systeme überhaupt erst zur Entstehung bringende Kommunikation das Auftreten eines neuen Ordnungsniveaus bezeichnet, welches sich nicht mehr allein aus den Eigenschaften des ihm zugrunde liegenden Unterbaus erklären lässt.[24] Konkret: Unternehmen sind mehr als die Summe ihrer Teile.[25] Die Systemtheorie trägt von vornherein Emergenzeffekten Rechnung und bietet um den Preis eines beachtlichen Abstraktionsgrades ein erhebliches Auflösungspotential, da mit ihr ein Paradigmenwechsel von der Analyse individuellen Handelns zur Analyse überindividueller Kommunikationsprozesse verbunden ist.[26] Unmittelbare Konsequenzen für das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht lassen sich aus ihr allerdings nicht ableiten; die insoweit zutreffenden Dezisionen müssen innerhalb des Rechtssystems erfolgen. Dann aber ist von Interesse, ob, wie und warum das Etikett der straf- und ordnungswidrigkeitenrechtlichen Relevanz bestimmter Verhaltensweisen zur Anwendung gebracht wird. Kriminologisch steht dahinter der dem konstruktivistischen Paradigma verhaftete Labeling Approach Ansatz, der davon ausgeht, dass Kriminalität keine ontische Basis hat, sondern das Ergebnis von Definitionsprozessen auf der Ebene der Normsetzung und -anwendung ist.[27]
[1]
Sutherland S. 7.
[2]
Zu diesem Zusammenhang siehe Boers MSchrKrim 2001, 335, 341; Theile (2009), S. 27 ff.
[3]
Sutherland S. 4 f.
[4]
Otto MSchrKrim 1980, 397, 399; ders . Jura 1989, 24, 25; Volk JZ 1982, 82, 85. Ferner Baumann JZ 1983, 935, 936; Hassemer StV 1990, 328, 330; Herzog (1991), S. 111; Schubarth ZStW 92 (1980), 80, 105.
[5]
Baumann JZ 1983, 935, 936; Geerds (1991), S. 10; Otto MSchrKrim 1980, 397, 399.
[6]
Boers MSchrKrim 2001, 335, 338; Meier § 11 Rn. 4 f. Kritisch zu solchen Definitionsversuchen Eisenberg § 47 Rn. 3 ff.; Kaiser § 74 Rn. 11 .
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