Teil 2 Allgemeines› III. Wesentliche Verfahrensgrundsätze in der Hauptverhandlung› 3. Unmittelbarkeitsgrundsatz
3. Unmittelbarkeitsgrundsatz
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Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im Strafprozess gebietet, dass das erkennende Gericht die Beweise selbst erhebt, um von ihnen durch eigene Wahrnehmung Kenntnis zu erlangen, und dass es zu seiner Überzeugungsbildung solche Beweismittel verwendet, deren Benutzung an die Ermittlung des Sachverhalts am nächsten heranführt. § 250, der nur für Wahrnehmungen von Zeugen und Sachverständigen im Strengbeweisverfahren gilt,[37] postuliert den grundsätzlichen Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis.[38] Eine wesentliche Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes stellt die gemäß § 255a bestehende Möglichkeit dar, unter bestimmten Voraussetzungen in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder gegen das Leben oder wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen die Vernehmung eines Zeugen unter 18 Jahren durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung zu ersetzen (vgl. hierzu im einzelnen Rn. 626 ff.).
[1]
Vgl. Franke StraFo 2014, 362.
[2]
BGH NStZ 2002, 106.
[3]
BGH NStZ 1996, 398.
[4]
BGH NJW 2006, 1220.
[5]
BVerfG NJW 2002, 814; BGH 21, 72, 73.
[6]
BayObLG StV 1982, 62; OLG Köln NStZ 1984, 282.
[7]
BGH StV 1995, 116.
[8]
BGHSt 5, 75, 83.
[9]
BGH NJW 2006, 1220 = JR 2006, 389 m. Anm. Humberg .
[10]
BGH NStZ 1981, 311; OLG Hamm StV 2000, 659; StV 2002, 474.
[11]
BGH NStZ-RR 2006, 261.
[12]
BGH NStZ 1998, 53 m. abl. Anm. Eisenberg NStZ 1998, 53.
[13]
BGH NStZ 1998, 315.
[14]
BGH StV 1996, 134.
[15]
BGH NStZ 1999, 92.
[16]
BGH NStZ 2016, 118.
[17]
BGH StV 1993, 460; OLG Braunschweig StV 1994, 474.
[18]
BGH NStZ 2013, 51.
[19]
KK- Diemer § 171b GVG Rn. 5.
[20]
BGH NJW 2006, 1220; BGH B. v. 17.9.2014, 1 StR 212/14.
[21]
BGH NStZ 2016, 180 (2. Senat); zur Beruhensfrage bei Nichtausschluss während Zeugenvernehmung dagegen eher kritisch BGH StV 2016, 788 (4. Senat).
[22]
Roxin § 44 A I.
[23]
Vgl. BGH NStZ 1990, 229; Pfeiffer Einl. Rn. 7.
[24]
So jedoch BGH StV 1997, 450 m. – zurecht – abl. Anm. Lunnebach StV 1997, 452.
[25]
OLG Jena StraFo 2007, 65.
[26]
Eine Ausnahme stellen die Ausführungen von König in Strafverteidigung im Rechtsstaat, S. 623 ff. 627 f., dar, der als Folge des „Absprachewesens“ völlig zu Recht eine Abwertung des Schöffensystems ausmacht und tendenziell dessen Abschaffung prognostiziert.
[27]
RG 62, 198.
[28]
BGH NJW 2001, 3062.
[29]
BGHSt 15, 306.
[30]
BGHSt 9, 243.
[31]
BGH NStZ 1983, 375.
[32]
BGHSt 9, 243, 244.
[33]
BGHSt 15, 306; 21, 332, 334; BGH NStZ 1981, 449; 1985, 375; 1986, 564.
[34]
BGH NJW 1972, 2006.
[35]
OLG Hamburg StV 1984, 111.
[36]
BGHSt 8, 41; BGH NStZ 1989, 284; nicht jedoch der Urteilsgründe BGHSt 15, 263.
[37]
Meyer-Goßner/Schmitt § 250 Rn. 1.
[38]
BGHSt 15, 253, 254.
Teil 2 Allgemeines› IV. Die Stellung des Verteidigers und sein Verhältnis zu den Prozessbeteiligten
IV. Die Stellung des Verteidigers und sein Verhältnis zu den Prozessbeteiligten
Der Widerspruch ist der Prüfstein der Wahrheit.Die Rolle dieses nach Wahrheit strebenden Widerspruchs ist es,welche der Vertheidigung im Strafprocesse zufällt( Vargha Die Vertheidigung in Strafsachen, 1879, § 184) |
Teil 2 Allgemeines› IV. Die Stellung des Verteidigers und sein Verhältnis zu den Prozessbeteiligten› 1. Rechtsstellung des Verteidigers
1. Rechtsstellung des Verteidigers
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Die Rechtsstellung des Strafverteidigers ist, durch das Fehlen einer gesetzlichen Begriffsbestimmung begünstigt, immer noch heftig umstritten.[1] Während die Rechtsprechung und die herrschende Meinung in der Literatur[2] den Verteidiger als selbständiges, dem Gericht und der Staatsanwaltschaft gleichgeordnetes Organ der Rechtspflegebezeichnen, der bei seiner Tätigkeit weder der Kontrolle des Gerichts[3] noch den Weisungen seines Mandanten unterliegt,[4] der allerdings dessen Rechte auch nicht unparteilich, sondern einseitig zu seinen Gunsten wahrzunehmen hat,[5] sieht die extreme Gegenmeinung den Verteidiger als reinen Interessenvertreter des Angeklagten, der sich streng an dessen Weisungen zu halten habe.[6] Es ist hier nicht der Ort, den grundsätzlichen Streit fortzusetzen oder auch nur in Einzelheiten darzustellen, zumal die praktischen Konsequenzen weitaus geringer sind, als von den Teilnehmern der Diskussion dargestellt.[7] Dass sich ein Verteidiger durch das Gericht unter Hinweis auf seine Stellung als Organ der Rechtspflege „disziplinieren“ ließe,[8] erscheint kaum glaubhaft, wenn man hierunter eine aus der Sicht des Gerichts erfolgreiche Beeinflussung oder Verhinderung des Verteidigerverhaltens versteht. Wer sich durch eine derartige Belehrung ins Bockshorn jagen lässt, sollte seine Berufswahl ernsthaft überprüfen. Allzu ängstliche Gemüter sind jedenfalls als Strafverteidiger kaum geeignet. Im Übrigen könnte in einem solchen Fall der Hinweis an das Gericht weiterhelfen, dass die Rechtsprechung die Stellung des Verteidigers nicht nur als Organ der Rechtspflege, sondern als selbständiges, dem Gericht und der Staatsanwaltschaft gleichgeordnetes definiert.
Teil 2 Allgemeines› IV. Die Stellung des Verteidigers und sein Verhältnis zu den Prozessbeteiligten› 2. Verhältnis zu Staatsanwaltschaft und Gericht
2. Verhältnis zu Staatsanwaltschaft und Gericht
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In letzter Linie ist es immer der Vertheidiger, der für eineunwürdige Behandlung verantwortlich erscheint, welche seinClient von irgend einer Seite zu erleiden hat( Vargha Die Vertheidigung in Strafsachen, 1879, § 226) |
Für das generelle Verhältnis des Verteidigers zur Staatsanwaltschaft und zum Gericht gilt gegenüber dem Vor- und Zwischenverfahren nichts Besonderes. Zweifellos ist jedoch gerade die Hauptverhandlung besonders konfliktträchtig, weil informelle „bilaterale“ Gespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten nur noch begrenzt möglich sind, Auseinandersetzungen daher in der Regel öffentlich ausgetragen werden, also auch mit Gesichtsverlusten für die eine oder andere Seite verbunden sein können, und weil der Verfahrensausgang unmittelbar bevorsteht. Gerade in dieser Situation gilt es für den Verteidiger, Prinzipientreue zu wahren. Korrektheit in der Form, Härte und Kompetenz in der Sacheund Verlässlichkeit in den Äußerungensind Eigenschaften des Verteidigers, die nicht nur im Vorverfahren, sondern gerade auch in der Hauptverhandlung notwendig sind.
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Die Frage, ob der Verteidiger zugunsten seines Mandanten (auch in der Hauptverhandlung) lügen darf, oder ob er einem Lügeverbotunterliegt, ist seit vielen Jahren zum Gegenstand von Auseinandersetzungen in der Literatur geworden. Der rigorosen Haltung des Bundesgerichtshofs , der die „Beratung beider Lüge“ untersagt,[9] steht diametral die Auffassung von Kleine-Cosack entgegen, der das Lügeverbot für unangebracht hält, soweit Rechtsanwälte (nicht nur Strafverteidiger) mit ihren „Falschaussagen“ einen „legitimen – rechtsstaatlich vertretbaren Zweck“ verfolgten.[10] Dem widerspricht die h.M. (unter Beteiligung namhafter Strafverteidiger) und bestreitet ein „Recht zur Lüge“.[11] Dem ist zuzustimmen. Zum einen würde das Bewusstsein auf Seiten des Gerichts, vom Verteidiger angelogen werden „zu dürfen“ dessen Position und Glaubwürdigkeit schwächen. Selbst die Beteuerung des Verteidigers, die Wahrheit zu sagen, könnte dann nicht mehr ernst genommen werden, denn auch diese Beteuerung wäre, legt man die Kriterien von Kleine-Cosack zugrunde, vom „Lügerecht“ gedeckt. Gillmeister [12] weist auf einen zweiten, nicht weniger wichtigen Aspekt hin. Wenn der Verteidiger lügen darf, dann wird er, wenn es dem Mandanten nützt, zur Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten logischer Weise auch lügen müssen. Wenn man bedenkt, dass hierzu in letzter Konsequenz auch die Erfindung und Ausarbeitung wahrheitswidriger, aber nützlicher Einlassungskonstrukte gehören würde, wird die Absurdität des „Lügerechts“ offenkundig. Das Lügeverbot ist daher auch ein Schutz gegen die Verpflichtung des Verteidigers zu lügen.[13]
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