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Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wurde der Gesetzesentwurf zum Teil heftig kritisiert.[4] In der Stellungnahme der BRAK vom Juni 2011 wurde bereits in der Vorbemerkung ausgeführt, dass spätestens mit den Regelungen, die der Gesetzgeber mit dem sog. „2. Opferrechtsreformgesetz“ einführte, nach Auffassung des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer das Gleichgewicht des deutschen Strafprozesses zu Lasten von Beschuldigten- und Verteidigungsrechten empfindlich gestört war.[5] Der Strafrechtsausschuss bemängelte, dass von Straftaten betroffene Zeugen noch weitergehende Beteiligungs- und Informationsrechte zugestanden und auch im Vergleich zu sonstigen Zeugen bei der unmittelbaren Sachverhaltsaufklärung anders behandelt werden sollten.[6] Die im Entwurf vorgeschlagene erweiterte Möglichkeit, unmittelbare Aussagen von erwachsenen Zeugen, die als Kinder oder Jugendliche durch eine der im § 255a StPO genannten Straftaten verletzt worden sein sollen, in der Hauptverhandlung ebenfalls durch die Vorführung einer videotechnischen Aufzeichnung ihrer Vernehmung im Ermittlungsverfahren zu ersetzen, würde maßgebliche Prinzipien des Strafprozesses durchbrechen, insbesondere das der Unmittelbarkeit. Dass die Mitglieder des erkennenden Spruchkörpers einschließlich der Schöffen aus Gründen des Verletztenschutzes künftig in noch größerem Umfang als bisher in solche Verfahren ihre Überzeugung ohne die unmittelbare Einvernahme des wichtigsten Beweismittels finden sollten, also ohne sich ein eigenes unmittelbares Bild von der Qualität der Aussage und des Zeugen machen zu können, würde die Wahrheitsfindung, aber auch die Gewährleistung effektiver Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten, erheblich einschränken.
Die Regelung zur Ausweitung von Informationsrechten des Verletzten im Strafverfahren begegnete ebenso erheblichen Bedenken, da sie für nicht ausgewogen gehalten wurde. Es würde die Gefahr bestehen, dass derart unausgewogene Gesetzesinitiativen das genaue Gegenteil der beabsichtigten Wirkung bewirken könnte.
Teil 1 Die Entwicklung der Schutzrechte zugunsten des Verletzten› XI. Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26.6.2013› 2. Wesentlicher Inhalt
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Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs“ wurden insbesondere die Rechte kindlicher und jugendlicher Opfer von Sexualstraftaten gestärkt. Zur Vermeidung von Belastungen, die durch Mehrfachvernehmungen entstehen, wurden die Möglichkeiten zur Aufzeichnung von Zeugenvernehmungen auf Bild-, Tonträger und deren Vorführung in der Hauptverhandlung durch die neugefassten §§ 58a, 255 StPO erweitert. Des Weiteren sollen diese Vernehmungen durch den Richter durchgeführt werden. § 69 Abs. 2 S. 2 StPO räumte Verletztenzeugen darüber hinaus die Möglichkeit ein, sich zu den Auswirkungen der Tat zu äußern. Die Möglichkeiten, die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung auszuschließen, wurde im Fall von minderjährigen Zeugen gem. § 171b GVG ergänzt und gleichzeitig die Bestellung eines Verletztenanwalts für zum Tatzeitpunkt minderjährige Geschädigte, die zwischenzeitlich volljährig geworden sind, in § 397a StPO erweitert. Ebenso wurden die Mitteilungspflichten zu Gunsten des Verletzten in § 406d Abs. 2 Nr. 3 StPO erweitert. Neben der Verlängerung des Ruhens der Verjährung in Fällen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bis zur Vollendung des 21. Lebensjahr des Geschädigten wurde gleichzeitig in § 197 Abs. 1 BGB auch die Verjährungsfrist für die zivilrechtlichen Ansprüche des Verletzten auf 30 Jahre angehoben. Im Bereich des Jugendstrafrechts wurden die besonderen Anforderungen an Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte verbindlicher vorgegeben und deren erforderliche Kenntnisse auf dem Gebiet der Kriminologie, Pädagogik, Sozialpädagogik sowie der Jugendpsychologie ausdrücklich betont.[7]
[1]
BGBl. I, 1805 v. 26.6.2013.
[2]
Bundesministerium der Justiz/Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend/Bundesministerium für Bildung und Forschung Abschlussbericht – Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch, beschlossen am 30.11.2001, abrufbar unter der Adresse http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Abschlussbericht_RTKM.pdf?__blob=publicationFile.
[3]
Einzelheiten dazu im Gesetzesentwurf der Bundesregierung, BR-Drucks. 213/11 v. 15.4.2011; Stgn. des Bundesrats, BT-Drucks. 17/6261 v. 22.6.2011, S. 23 ff.
[4]
vgl. dazu: Eisenberg HRRS 2011, S. 64 ff.
[5]
vgl. BRAK-Stgn. Nr. 9/2009 aus März 2009.
[6]
vgl. BRAK-Stgn. Nr. 35/2011 aus Juni 2011.
[7]
vgl. dazu auch: Zöller in FS Paeffgen, S. 727 f.; Haverkamp Forum Kriminalprävention 2016, 45 f.; Löffelmann recht + politik 2014, S. 2.
Teil 1 Die Entwicklung der Schutzrechte zugunsten des Verletzten› XII. Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren vom 21.12.2015
XII. Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren vom 21.12.2015
Teil 1 Die Entwicklung der Schutzrechte zugunsten des Verletzten› XII. Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren vom 21.12.2015› 1. Vorgeschichte
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Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15.4.2015[1] wurde die Umsetzung der europarechtlichen Mindestvorgaben bezüglich der Verfahrensrechte von Verletzten im Strafverfahren verfolgt, die durch die „Richtlinie über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe“[2] notwendig wurden. Soweit nicht bereits in der Vergangenheit geschehen, hätten die notwendigen Rechtsänderungen bereits bis zum 16.11.2015 umgesetzt werden müssen. Neben Befürwortern, die sich allen voran auf Seiten von Opferschutzverbänden befanden, kam es auch im vorliegenden Gesetzgebungsverfahren zu heftiger Kritik aus Wissenschaft sowie insbesondere strafverteidigender Praxis, die bis heute anhält[3], nachdem das Kernstück, nämlich die gesetzliche Verankerung der psychosozialen Prozessbegleitung und das damit einhergehende „Gesetz über die psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren“ zum 1.1.2017 in Kraft getreten ist.[4] Durch die psychosoziale Prozessbegleitung sollten besonders schutzbedürftige Opfer die Möglichkeit bekommen, vor, während und nach der Hauptverhandlung auf professionellem Wege begleitet zu werden.
Nach Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse, einer öffentlichen Sachverständigenanhörung am 15.6.2015 sowie anschließenden weiteren Beratungen hat schließlich der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz in seiner Beschlussempfehlung sowie seinem Bericht zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung diesen in bestimmten Bereichen, insbesondere bezüglich § 406g StPO, geändert.[5] Schließlich trat das „3. Opferrechtsreformgesetz“ nach den erforderlichen Abstimmungen im Bundestag und Bundesrat am 31.12.2015 bzw. 1.1.2017 in Kraft.[6]
Teil 1 Die Entwicklung der Schutzrechte zugunsten des Verletzten› XII. Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren vom 21.12.2015› 2. Wesentlicher Inhalt
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Inhaltlich kam es durch das „3. Opferrechtsreformgesetz“ insbesondere zur Ausweitung der Informationsrechte des Verletzten sowie – spiegelbildlich – zur Einführung umfangreicher Unterrichtungspflichten der Strafverfolgungsbehörden. So wurde etwa in § 48 Abs. 3 StPO für den Fall eines Verletztenzeugen eingeführt, dass ihn betreffende Verhandlungen, Vernehmungen und sonstige Untersuchungshandlungen unter Berücksichtigung seiner besonderen Schutzbedürftigkeit zu erfolgen haben. Ausgehend von § 48 Abs. 3 S. 2 StPO ist deshalb insbesondere eine mögliche Vernehmung des Zeugen in Abwesenheit des Angeklagten nach § 168e StPO bzw. die audiovisuelle Vernehmung entsprechend § 247a StPO oder ein Ausschluss der Öffentlichkeit von der Teilnahme an der Hauptverhandlung gem. § 171b Abs. 1 GVG zu prüfen. Ebenfalls kann in Betracht kommen, zu prüfen, inwieweit auf Fragen zum persönlichen Lebensbereich des Zeugen verzichtet werden kann. Des Weiteren sieht § 158 StPO nunmehr vor, dass dem Anzeigeerstatter auf seinen Antrag hin eine schriftliche Anzeigebestätigung zu erteilen ist. Gem. § 158 Abs. 1 S. 4 StPO sollen dort auch die vom Verletzten gemachten Angaben zu Tatzeit, Tatort sowie angezeigter Tat mit aufgenommen werden. Für den Fall, dass der Anzeigeerstatter der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, hat er gem. § 158 Abs. 4 StPO Anspruch auf Hilfestellung durch einen Sprachmittler. In diesem Fall ist die entsprechende Benachrichtigung in eine ihm verständliche Sprache zu übersetzen. Ferner wurden in § 406d StPO die Informationsrechte des Verletzten zum Verfahrensstand erweitert, etwa bezüglich der Unterrichtung über den Zeitpunkt und den Ort der Hauptverhandlung sowie die gegen den Angeklagten erhobenen Beschuldigungen. Schließlich wurden die Hinweispflichten in den §§ 406i – k StPO neu geordnet und gefasst.[7] Die weitreichendsten Änderungen des „3. Opferrechtsreformgesetzes“, zum Teil auch als „Kernstück“ oder auch „Meilenstein“ bezeichnet[8] erfolgten in § 406g StPO in Form der neu eingeführten „psychosozialen Prozessbegleitung“, die zum 1.1.2017 ein Recht des Verletzten auf Beistand und ein damit korrespondierendes Anwesenheitsrecht des psychosozialen Prozessbegleiters bei Vernehmungen im Ermittlungsverfahren bzw. während der Hauptverhandlung formte. Zudem haben die von schweren Gewalt- oder Sexualstraftaten Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Beiordnung eines solchen Prozessbegleiters auf Kosten der Staatskasse.
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