Zum Beleg für eine bestimmte Staatenpraxis können neben Realakten zwar auch Willenserklärungen der Staaten herangezogen werden. Einmaligen Beschlüssen der Generalversammlung fehlt aber regelmäßig bereits die erforderliche Einheitlichkeit und Dauerhaftigkeit der Staatenpraxis, auf die schon aus Gründen einer gewissen Sicherheit in der Rechtserkenntnis bei der Entstehung von Völkergewohnheitsrecht grundsätzlich nicht verzichtet werden kann. Als weiteres Problem kommt hinzu, dass es sich nach traditionellem Verständnis um eine auf konkrete und reale Sachverhalte bezogene Staatenpraxis handeln muss, was bei abstrakt-generell formulierten Resolutionsinhalten – wie bei der FRD – gerade nicht gegeben ist. Insoweit kommt allenfalls in Betracht, dass entsprechende (auch einmalige) Beschlüsse der Generalversammlung eine kontinuierliche Staatenpraxis zu ersetzen vermögen, also ein gleichberechtigtes Aliud zur Staatenpraxis darstellen.
b) Rechtsüberzeugung (opinio iuris)
Einer Qualifizierung des Resolutions-Textes als Ausdruck der Überzeugung der Staaten vom Bestehen eines bestimmten Rechtssatzes des Völkergewohnheitsrechts steht grundsätzlich der für sich genommen völkerrechtlich unverbindliche Charakter der Resolution entgegen. Doch wird in einzelnen Formulierungen der FRD ausdrücklich von einem Recht ( right ) oder einer Pflicht ( duty ) gesprochen. Und seit den 1960er Jahren ist es immer wieder vorgekommen, dass Staaten einen förmlichen Vorbehalt gegen einzelne Resolutionsbestimmungen erklärt haben, was nur dann Sinn macht, wenn die Resolution grundsätzlich rechtliche Verbindlichkeit beansprucht. Auch der IGH scheint in diesem Zusammenhang eine Berücksichtigungsfähigkeit von Resolutionsinhalten zu sehen (s. unten, IV.).
4. Allgemeine Rechtsgrundsätze
Eine Qualifizierung der FRD-Inhalte als → Allgemeine Rechtsgrundsätzegem. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut scheitert schon daran, dass es sich bei dieser Rechtsquelle um ursprünglich innerstaatlich geltende Rechtsnormen handelt, die auf die Ebene des Völkerrechts übertragen werden, soweit sie auch dort (lückenfüllend) problemadäquate Resultate hervorzubringen vermögen. Hingegen stellen die FRD-Grundsätze (mit Ausnahme des Prinzips von Treu und Glauben) originär und spezifisch völkerrechtliche Prinzipien dar, die ihren Ursprung im Völkervertrags- oder Völkergewohnheitsrecht finden. Als „Allgemeine Rechtsgrundsätze“ in einem weiten Verständnis zeichnen sie sich allein dadurch aus, dass sie inhaltlich besonders vage und konturenarm sind und deshalb der permanenten Konkretisierung bedürfen. Eine entsprechende, auf rechtliche Verbindlichkeit angelegte „Konkretisierungsbefugnis“ kommt der Generalversammlung in Ermangelung legislativer Befugnisse aber weder generell noch im Einzelfall zu.
5. Autoritative/authentische Auslegung der UN-Charta
Im Übrigen besitzt die Generalversammlung auch keine Befugnis zur autoritativen Auslegung (der einzelnen Prinzipien) der UN-Charta. Eine solche Befugnis zur einseitigen und für alle anderen Rechtsanwender verbindlichen Norminterpretation durch ein Vertragsorgan sieht das Völkerrecht nur selten vor (z. B. Art. IX Abs. 2 S. 1 WTO-A) und ergibt sich im vorliegenden Zusammenhang weder unmittelbar aus dem Wortlaut der UN-Charta noch aus der organschaftlichen Stellung oder der Funktion der Generalversammlung als einziges alle Mitglieder repräsentierendes Organ der Vereinten Nationen. Irrelevant ist zudem die authentische Auslegung gem. Art. 31 Abs. 1 lit. a und b WVRK, da es regelmäßig an einer späteren Übereinkunft oder späteren Übung bei der Anwendung des Vertrages durch alle Vertragsparteien fehlen wird. Eine rechtlich unverbindliche Resolution der Generalversammlung erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
Der IGH hat mehrmals die FRD zur Rechtserkenntnis herangezogen. Im Nicaragua-Fall (ICJ Rep. 1986, 14, Abs. 188, 191, 193, 202, 264; Nicaragua v. USA) hat der IGH sie zum Nachweis der opinio iuris für den Inhalt des universellen Gewaltverbots und des Interventionsverbots im Völkergewohnheitsrecht bemüht. Im Urteil Kongo v. Uganda (ICJ Rep. 2006, 168, Abs. 162, 300) hat der IGH einzelne in der FRD aufgeführte Grundsätze (bzw. Teile derselben) als deklaratorischen Ausdruck von Völkergewohnheitsrecht bezeichnet. In diesen Anwendungsmaßgaben spiegelt sich die Tatsache, dass gerade die FRD in der Praxis des Völkerrechts oftmals wie ein rechtlich allgemein verbindlicher Normtext angewendet wird. Eine nähere Begründung für dieses Vorgehen ist der IGH bisher allerdings schuldig geblieben bzw. lässt sich aus einzelnen Argumentationsfragmenten kaum erschließen. Letztlich wird man davon auszugehen haben, dass der FRD, soweit ihr Regelungsbereich betroffen ist, die tatsächliche Vermutung zugrunde liegt, geltendes Völkergewohnheitsrecht inhaltlich zutreffend wiederzugeben. Diese Vermutung steht allerdings der Widerlegung offen. Unter welchen Voraussetzungen im Hinblick auf den Abstimmungsmodus und die Mehrheitsverhältnisse sowie die inhaltliche Gestaltung der Resolution diese Vermutungsregel eingreift, ist aber nach wie vor ungeklärt.
G Inhaltsverzeichnis
Gebietserwerb, staatlicher
Gebietshoheit
Gegenmaßnahmen (Repressalien)
Generalversammlung
Gewaltverbot, universelles
Gleichheitsprinzip
Globale Staatengemeinschaftsräume
G› Gebietserwerb, staatlicher (Marten Breuer)
Gebietserwerb, staatlicher (Marten Breuer)
I. Allgemeines
II. Gebietserwerbstitel
1. Okkupation
2. Zession
3. Ersitzung
4. Adjudikation
5. Naturereignisse
III. Nicht anerkannte Erwerbstitel
1. Annexion
2. Kontiguität
Lit.:
R. Lesaffer , Argument from Roman Law in Current International Law: Occupation and Acquisitive Prescription, EJIL 16 (2005), 25; A. Proelss/T. Müller , The Legal Regime of the Arctic Ocean, ZaöRV 68 (2008), 651.
Das Territorium ist nach der Jellinekʼschen Drei-Elemente-Lehre ( → Staat) eine der drei Grundvoraussetzungen für Staatlichkeit überhaupt. Zudem markiert das Territorium denjenigen Raum, innerhalb dessen ein Staat zum Setzen von Hoheitsakten grds. befugt ist. Fragen des Erwerbs oder Verlusts von → Staatsgebietsind daher völkerrechtlich von zentraler Bedeutung. Entsprechend zivilrechtlichen Grundsätzen ist zwischen originärem und derivativem Gebietserwerb zu unterscheiden. Der originäre Gebietserwerb betrifft die Erlangung territorialer → Souveränitäthinsichtlich eines bislang herrenlosen Gebiets ( terra nullius ). Derartige Fälle kommen heutzutage allerdings nur noch ausgesprochen selten vor. Im Vordergrund steht daher heute der derivative, d. h. von einem vorherigen Souverän abgeleitete Gebietserwerb.
Insgesamt kennt das Völkerrecht die folgenden Erwerbstatbestände:
Bei der Okkupation erfolgt der Gebietserwerb durch die Inbesitznahme eines nicht zum Territorium eines anderen Staates gehörenden Landgebiets mit Aneignungswillen. Die Okkupation ist damit ein Fall originären Gebietserwerbs. Das anzueignende Gebiet muss herrenlos sein, d. h. es war bislang entweder unbekannt oder aber ist vom bisherigen Souverän aufgegeben worden (sog. Dereliktion). Eine Okkupation ist nur möglich hinsichtlich eines Landgebiets; der über einer Landmasse befindliche Luftraum, die dem Land vorgelagerten Küstengewässer sowie der Kontinentalschelf können nicht gesondert okkupiert werden, sondern folgen in ihrer Zuordnung dem jeweiligen Landgebiet. Teilweise ist vertreten worden, die Okkupation des Küstenstreifens erfasse automatisch auch das angrenzende Hinterland, allgemein durchgesetzt hat sich diese sog. Hinterland-Doktrin jedoch nicht. Einem Okkupationsverbot unterliegen staatsfreie Räume ( res communis omnium ), also die → Hohe See(Art. 89 SRÜ; Sart. II, Nr. 350) sowie der Weltraum einschließlich dortiger Himmelskörper (Art. II des Weltraumvertrags von 1967; Sart. II, Nr. 395) ( → Weltraumrecht); zu den Polargebieten s. III. 2.
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