Im Prinzip wird heute nicht mehr bestritten, dass die Bundesorgane bei der Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt in formeller und materieller Hinsicht an die Vorschriften des Grundgesetzes gebunden sind und die Einhaltung dieser Anforderungen der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die früher vertretene „Lehre vom gerichtsfreien Hoheitsakt“ hat sich nicht durchsetzen können. Nach dieser Lehre sollten die Akte der auswärtigen Gewalt „ihrer Natur nach“ einer gerichtlichen Kontrolle entzogen sein. Die Handlungen der Regierung würden sich durch ihre staatsleitende Tätigkeit auszeichnen, die aufgrund ihres politischen Charakters einer gerichtlichen Kontrolle entzogen sei. Diese Ansicht ist allerdings mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, wonach jede öffentliche Gewalt an die Verfassung gebunden ist, unvereinbar. Die Bindung an Recht und Gesetz kann nur garantiert werden, wenn eine unabhängige Instanz die Einhaltung überprüft. Zur Absicherung dieser Kontrolle besteht die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die gegen jeden Akt der öffentlichen Gewalt die Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes vorsieht. Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle der Akte der auswärtigen Gewalt ist nicht von vornherein schon deshalb ausgeschlossen, weil es sich um eine Handlung im Bereich des „Hochpolitischen“ handelt.
Dennoch bestehen in der Rechtsprechung des BVerfG Unterschiede gegenüber der Kontrolle von rein innerstaatlichen Sachverhalten. Das Gericht akzeptiert in ständiger Rechtsprechung (E 40, 148 [178 f.]; 55, 349 [365]; 94, 12 [35]), dass den zuständigen Organen wegen der Besonderheiten der Außenpolitik, die eine einseitige Durchsetzung der Auffassung der Bundesrepublik Deutschland im Regelfall nicht ermöglichen und eine gewisse Flexibilität bei der Akzeptanz von Kompromissen erforderlich machen, ein weiter Einschätzungs-, Prognose- oder Ermessensspielraum bei der Beurteilung außenpolitischer Lagen und der Zweckmäßigkeit des Einsatzes außenpolitischer Handlungsinstrumente verbleiben muss. Diesen Spielraum gewährleistet das Gericht, indem es sich eine Selbstbeschränkung ( judicial self-restraint ) bei der Kontrolle der auswärtigen Gewalt auferlegt und seinen Entscheidungen eine reduzierte materielle Kontrolldichte zugrunde legt. Daher werden Einschätzungen und Wertungen außenpolitischer Art nicht daraufhin überprüft, ob sie zutreffend sind, sondern ob sie die Grenze offensichtlicher Willkür überschritten haben (E 68, 1 [97]) bzw. ob sie sich im Rahmen der Ermächtigung durch ein Vertragsgesetz bewegen (E 104, 151 [210]). Diese Rechtsprechung wird von Teilen des Schrifttums unter Berufung auf Art. 1 Abs. 3 GG, der nicht zwischen auswärtiger und innerstaatlicher öffentlicher Gewalt differenziere, kritisiert. Dem wird man entgegenhalten können, dass das Grundgesetz selbst z. B. in Art. 23 und 24 GG gewisse Relativierungen der verfassungsrechtlichen Anforderungen bei außenpolitischen Akten gegenüber rein innerstaatlichen Sachverhalten vorsieht.
B Inhaltsverzeichnis
Bewaffneter Angriff
Bundesstaat (im Völkerrecht)
B› Bewaffneter Angriff (Stephan Hobe)
Bewaffneter Angriff (Stephan Hobe)
I. Begriff
1. Bewaffnung
2. Angriffshandlungen
II. Besondere Problemfelder
1. „Safe havens“ und terroristische Angriffe
2. Cyber Attacks
3. Unterstützungshandlungen
III. Fazit
Lit.:
P. Dreist , AWACS-Einsatz ohne Parlamentsbeschluss? Aktuelle Fragestellungen zur Zulässigkeit von Einsätzen bewaffneter Streitkräfte unter besonderer Berücksichtigung der NATO-AWACS-Einsätze in den USA 2001 und in der Türkei 2003, ZaöRV 64 (2004), 1001; O. Keber/P.N. Roguski , Ius ad bellum electronicum?, AVR 49 (2011), 399; N. Ochoa-Ruiz/E. Salamanca-Aguado , Exploring the Limits of International Law relating to the Use of Force in Self-defence, EJIL 16 (2005), 499; T. Plate , Völkerrechtliche Fragen bei Gefahrenabwehrmaßnahmen gegen Cyber-Angriffe, ZRP 2011, 200; T. Stein/T. Marauhn , Völkerrechtliche Aspekte von Informationsoperationen, ZaöRV 60 (2000), 1 ; W. Wengler , Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs im Nicaragua-Fall, NJW 1986, 2994.
Die Ausübung des individuellen und kollektiven Selbstverteidigungsrechts ( → Selbstverteidigung) gem. Art. 51 UN-Ch. setzt eine Selbstverteidigungslage voraus. Hierfür bedarf es eines gegenwärtigen rechtswidrigen bewaffneten Angriffs, der einem anderen Staat zurechenbar ist.
Dabei ist also zunächst der bewaffnete Angriff die zentrale Tatbestandsvoraussetzung. Wie der → Internationale Gerichtshofin seinem Urteil im Nicaragua-Fall im Jahre 1986 (ICJ Reports 1986, 14/103 f.) deutlich gemacht hat, zeichnet sich ein bewaffneter Angriff dadurch aus, dass er sowohl von seinem Ausmaß als auch von seinen Wirkungen her erhebliches Gewicht besitzt. Aus diesem Grund ist noch nicht jede Verletzung des → Gewaltverbots nach Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. als bewaffneter Angriff anzusehen. Denn Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch. soll präventiv und umfassend die Anwendung von Gewalt vermeiden. Die Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Ch. stellt ihrerseits eine Anwendung von grundsätzlich zu vermeidender Gewalt dar, sodass die Voraussetzungen der Ausnahmebestimmung entsprechend eng gefasst werden müssen. Einigkeit besteht insofern, als dass der Angriff mittels Waffengewalt gegen einen anderen → Staatbzw. dessen Streitkräfte durchgeführt werden muss. Bei der Frage der Zurechnung deuten sich angesichts des internationalen Terrorismus Veränderungen an.
Erforderlich ist ein Vorgehen mit militärischen Mitteln. Klassischerweise wird hierunter die Verwendung von Streitkräften und ihren Waffengattungen zu verstehen sein. Sinn von Art. 51 UN-Ch. ist es, das Selbstverteidigungsrecht auf besonders gravierende Fälle zu beschränken. Wenn ein solcher Fall vorliegt, spielt es allerdings keine Rolle, mit welcher Art von Mitteln der Angriff durchgeführt wird. Daher dürften auch zivile Mittel, die zur Waffe pervertiert werden, dann einen bewaffneten Angriff auslösen, wenn sie in ihrer Wirkung militärischen Waffen gleichkommen. Das Lenken zweier ziviler Luftfahrtzeuge in ein Gebäude etwa erfüllt unproblematisch dieses Kriterium.
Der IGH wie auch die herrschende Meinung ziehen zur Konkretisierung dessen, was die Qualität des Angriffs ausmacht, regelmäßig die Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung (UN GA Res. 3314 (XXI) vom 14.12.1974) heran. Dabei ist freilich zu beachten, dass der dort benutzte Begriff der „Aggression“ nicht ganz deckungsgleich mit dem des „bewaffneten Angriffs“ in Art. 51 UN-Ch. ist. Indes bietet die Aggressionsdefinition starke Indizien für die Auslegung auch von Art. 51 UN-Ch. und ist vorbehaltlich einiger Modifikationen jüngst auch im IStGH-Statut zur Definition des Verbrechens der → Aggressionaufgenommen worden. Insofern sind die in Art. 3 der Resolution genannten Angriffshandlungen signifikant: Invasion oder Besetzung durch fremde Streitkräfte, Beschießung oder Bombardierung fremden Gebiets, Blockade von Häfen und Küsten durch fremde Streitkräfte, direkter militärischer Angriff auf fremde Streitkräfte, Einsatz von Streifkräften, die sich zulässigerweise auf fremdem → Staatsgebietbefinden, unter Verstoß gegen Aufenthaltsbedingungen, Dulden einer Angriffshandlung fremder Streitkräfte von eigenem Territorium aus, Entsenden bewaffneter Banden, Freischärler und Söldner, wenn deren Handlungen mit den genannten Handlungen vergleichbar sind. Insbesondere kleinere Grenzgefechte dürften die Schwelle zum bewaffneten Angriff noch nicht überschreiten. Diskutabel scheint eine Einschränkung auch für die gezielte Befreiung eigener → Staatsangehöriger, möchte man eine solche Aktion ihrerseits nicht als gerechtfertigte Selbstverteidigung ansehen. Ferner entschied der IGH im Oil Platforms Case (ICJ Reports. 2003, 161/191 ff.), dass mehrere ungezielte Angriffe in Form von Seeminen und ungelenkten Raketen auf zivile Schiffe auch zusammengenommen noch keinen bewaffneten Angriff darstellten. Er deutete allerdings an, dass die (im Fall dem Iran nicht nachweisbare) Verminung eines Militärschiffes durchaus einen bewaffneten Angriff darstellen könnte (ICJ Reports. 2003, 161/195 f.).
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