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Bei der Mandatsführung selbst muss der Verteidiger sich des besonderen kulturellen Hintergrundsund des evtl. anderen Rechtsverständnissesbewusst sein. Fragen nach der Bestechlichkeit von Richtern und Staatsanwälten aber auch von Verteidigern (Bestechung/Bezahlung durch die Polizei, damit sie den Mandanten zum Geständnis veranlassen) sollten den Verteidiger nicht überraschen. Ferner ist zu beachten, dass in bestimmten Kulturkreisen ein Tateingeständnis eine Schmach ist, nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern für die ganze Familie. Ein noch so eindringlicher Hinweis auf die Möglichkeit der Strafmilderung und die Herausarbeitung strafmildernder Gesichtspunkte durch eine geständige Einlassung bewirken nichts. Der Mandant geht lieber erhobenen Hauptes unter. Die Fälle sind nicht selten, in denen der bis ans Ende der Hauptverhandlung trotz erdrückender Beweislage bestreitende Mandant eine mehrjährige Freiheitsstrafe erhält, nach Urteilsverkündung aber auf Rechtsmittel verzichtet. Für lateinamerikanische Drogenkuriere hat Zier [9] die Schwierigkeiten in der Verteidigung wegen des anderen kulturellen Hintergrundes und des anderen Rechtsverständnisses anschaulich geschildert. Ein letztes Beispiel dazu. Es wird berichtet, dass in der Türkei, obwohl rechtlich anders möglich, in „normalen“ Strafverfahren nur sehr selten Anklage erhoben wird oder gar eine Verurteilung erfolgt, wenn nur die belastende Aussage eines einzigen Zeugen vorliegt. Die Skepsis gegenüber dem Zeugenbeweis soll weit stärker ausgeprägt sein als in Deutschland. Voraussetzung für Anklage und Verurteilung sind daher häufig mindestens zwei belastende Zeugenaussagen und/oder objektive Beweismittel, z.B. Festnahme mit der Beute am Tatort. Vor dem Hintergrund dieser weit verbreiteten Auffassung ist es für einen türkischen Staatsangehörigen kaum verständlich, wenn der Verteidiger ihm erklärt, eine Verurteilung aufgrund der Aussage eines anonymen V-Mannes, der noch nicht einmal in der Hauptverhandlung als Zeuge erscheint, sei möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich.
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Damit soll verdeutlicht werden, dass der Verteidiger, der das Optimale für den Mandanten „herausholen“ will, bei ausländischen Mandanten manchmal überhaupt nicht „ankommt“ und mit seinen guten Ratschlägen eher das Gegenteil bewirken kann, nämlich Zweifel an der Qualifikation des Verteidigers, Zweifel daran, ob sich der Verteidiger wirklich für den Mandanten einsetzt oder nicht statt dessen ein „einfaches“ und wenig arbeitsaufwendiges Verfahren führen will und schließlich der Argwohn, dass der Verteidiger mit Gericht und Polizei zusammenarbeitet, wenn er dem Mandanten zu einem nach seinem Verständnis schädlichen Geständnis rät. Den andersartigen kulturellen Hintergrund und das andersartige Rechtsverständnis sollte dem Verteidiger bewusst sein und veranlassen, mit besonderem Fingerspitzengefühl an die Beratung und Besprechung heranzugehen. Merkt der Verteidiger, dass es im Mandatsverhältnis nicht „läuft“, der Mandant auch dem Verteidiger gegenüber „mauert“, sollte er einen Kollegen fragen oder aber einen Dolmetscher, der oftmals kulturelle Hintergründe und ein anderes Rechtsverständnis ganz allgemein und unabhängig vom jeweiligen Mandatsverhältnis sehr gut erläutern kann. Dies lässt evtl. wichtige Rückschlüsse auf das Verhalten des Mandanten zu und kann den Verteidiger veranlassen, auf mögliche Vorbehalte des Mandanten angemessener zu reagieren.
[1]
Vgl. dazu insgesamt J. Schmidt Verteidigung von Ausländern, 4. Aufl., passim; Hesse MSchrKrim, Sonderheft, 1999, 94. Hilfreich ist der Leitfaden zur Untersuchungshaft von Oetjen/Endriß 1999, in dem ausländische Mandanten in Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Türkisch, Albanisch und Arabisch in einer auch für den juristischen Laien verständlichen Sprache Voraussetzungen und Ausgestaltung der U-Haft und ihre Rechte nachlesen können (altes Recht).
[2]
Zu den Problemen der Hinzuziehung eines Dolmetschers vgl. J. Schmidt Rn. 264 ff.
[3]
BGHSt 46, 178 = StV 2001, 1; BVerfG NJW 2004, 50, 51; OLG Celle NStZ 2011, 718; LG Freiburg NStZ-RR 2012, 292.
[4]
BVerfG NJW 2004, 50.
[5]
OLG Brandenburg StraFo 2005, 415.
[6]
Vgl. dazu Jung StV 2007, 663 und 106; ferner insgesamt J. Schmidt passim.
[7]
Zur Problematik der Abschiebehaft als Überhaft vgl. OLG Naumburg StV 2009, 423.
[8]
Vgl. dazu J. Schmidt Rn. 17 ff., 459 ff.
[9]
StV 1990, 475.
Teil 1 Einleitung› IV. Überlegungen zur Mandatsübernahme› 3. Weitere allgemeine Hinweise
3. Weitere allgemeine Hinweise
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Und schließlich sollte sich der Verteidiger bei Übernahme eines Haftmandats ungeachtet von Sprachschwierigkeiten und Nationalität des Mandanten über weitere Besonderheiten im Klaren sein.
Sofern dem Beschuldigten nicht bereits bei Erlass des Haftbefehls ein Pflichtverteidiger nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 S. 4 bestellt sondern ihm gem. § 142 Abs. 1 eine Vorschlagsfrist eingeräumt wurde, muss der Beschuldigte innerhalb der Frist einen vorzuschlagenden Verteidiger finden (vgl. dazu insgesamt unten Rn. 288 ff.). Dies führt gerade in den ersten Tagen der Inhaftierung, insbes. in den Zugangsstationen, zu einem lebhaften „Handel mit Anwälten“. Die Inhaftierten preisen ihren Anwalt, nur allzu oft veranlasst durch diesen selbst, als den besten an. Der Verteidiger wird dann von dem potenziellen Mandanten durch einen Telefonanruf des Sozialarbeiters oder aber, was wohl die Regel ist, durch eine Besuchskarte um einen Besuch gebeten, und zwar unabhängig davon, ob die Beauftragung als Wahl- oder Pflichtverteidiger erfolgen soll. Der Verteidiger sollte jedoch wissen, dass viele Gefangene gleichzeitig mehrere Anwälte(auf jeweilige Empfehlung von Mitgefangenen) um einen Besuch bitten. Die Gründe, mehrere Anwälte gleichzeitig zu „bestellen“, sind mannigfach. So kann es dem Gefangenen darum gehen, so schnell wie möglich mit einem Anwalt zu sprechen. Schreibt er mehrere Anwälte an, so kann er ziemlich sicher sein, dass mindestens einer alsbald erscheint, denn auch bei den Anwälten gibt es in Kenntnis dieser Praxis den Wettlauf um Mandate. Ein anderer Grund kann sein, einen Anwalt zu finden, dem der Gefangene nach dem ersten Gespräch am ehesten vertraut. Und schließlich geht es auch um die finanzielle Seite. Durch die Bestellung mehrerer Anwälte kann sich der Mandant quasi Kostenvoranschläge einholen bzw. herausfinden, ob der Anwalt zur Übernahme der Pflichtverteidigung bereit ist, um sodann unter mehreren Anwälten die Auswahl zu treffen. Für den Verteidiger ist es daher ratsam, gerade bei Erstbesuchen von Untersuchungsgefangenen nach vorangegangenen Verteidigerbesuchen bzw. bereits erteilter Verteidigervollmacht zu fragen. War bereits ein Anwalt zum Besuch, dem Vollmacht erteilt wurde, ist der Verteidiger „gewarnt“ und kann in dem Gespräch mit dem Gefangenen gleich darauf hinweisen, dass der Gefangene bereits einen Verteidiger hat und nach dem Grund für den Besuch des weiteren Anwalts fragen.
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Ferner sollte der Verteidiger wissen, dass die Fälle des „Sturms auf die Haftmandate“und des „Mandatsklaus“nirgends so häufig sind wie in der JVA. Hier seien nur einige Berichte wiedergegeben, die aus der Zeit vor der Einführung der Pflichtverteidigung ab Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft stammen. Es soll Kollegen geben, die sich im Bereich der Vorführzellen aufhalten und sich all denen als Verteidiger anbiedern, die dem Haftrichter vorgeführt werden. Es soll auch Kollegen geben, die sich die Liste der in Untersuchungshaft genommenen Beschuldigten beschaffen und, nachdem sie sich auf der Geschäftsstelle über den Gegenstand des Vorwurfs erkundigt haben, sich für die ihnen am interessantesten erscheinenden Beschuldigten einen Anbahnungssprechschein ausstellen lassen, um die betreffenden Beschuldigten dann in der JVA aufzusuchen. Wird der Verteidiger etwa von Familienangehörigen oder Dritten beauftragt, so wird er nach Erscheinen in der JVA feststellen müssen, dass ein Kollege bereits die Verteidigung übernommen hat (zum Problem der Ereilung eines Anbahnungssprechscheins bei Beauftragung durch Dritte siehe unten Rn. 78 ff.). Auch wenn der Verteidiger ein Mandat in der Haft übernommen hat, schützt ihn dies nicht vor Abwerbungsversuchenanderer Kollegen. Die Untersuchungsgefangenen sind nicht nur dem jederzeitigen Zugriff der Polizei, sondern auch dem der Kollegen ausgesetzt. Es kommt immer wieder vor, dass sich Kollegen nach der Beschaffung von Sprechscheinen bereits verteidigte Untersuchungsgefangene vorführen lassen und die Übernahme der Verteidigung anstelle oder zusammen mit dem bisherigen Verteidiger anbieten. Allerdings kann die Initiative zum Besuch eines anderen Anwalts auch vom Mandanten selbst ausgehen. So kann es sein, dass dem Mandanten von anderen Gefangenen eingeredet wurde, der bisherige Verteidiger sei schlecht oder in dieser Sache nicht spezialisiert, der beste Anwalt für den Fall sei Rechtsanwalt X. Die Bereitschaft des Mandanten, auf derartige „Ratschläge“ zu hören, wird in dem Maße steigen, wie der Mandant sich unverteidigt oder nicht gut „betreut“ fühlt, was sich aus der Sicht des Mandanten ggf. auch aus der Anzahl der Besuche ergibt. Und schließlich kann nicht verschwiegen werden, dass viele Gefangene von ihren Verteidigern angehalten werden, neue Mandate zu beschaffen. Dies kann durch einfache Bitte oder Aufforderung geschehen, aber auch durch andere Mittel. So wird berichtet, dass mittellosen Mandanten vom Verteidiger etwa Geld für den Einkauf, ein Radio oder gar ein Fernseher zur Verfügung gestellt wird mit der Maßgabe, dass die Kosten durch die Beschaffung neuer Mandate abgetragen werden müssen. Es wird auch berichtet, dass Honorare vereinbart werden, die der Mandant durch die Beschaffung anderer Mandate (teilweise) begleicht, wobei für Pflichtverteidigung und Wahlverteidigung jeweils ein bestimmter Betrag vom vereinbarten Honorar abgezogen wird. Und schließlich wird von Bestechung von Beamten der JVA gemunkelt, für eine Pflichtverteidigung zahle der Verteidiger 100 €, für eine Wahlverteidigung zwischen 200 € und 300 €. Vor derartigen Dingen kann nur gewarnt werden.
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