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Im Verhältnis zu Art. 6enthält Art. 9erhöhte und restriktivere Zulässigkeitsvoraussetzungen an eine Datenverarbeitung. Folglich ließe sich Art. 9als eigenes Regelungssystem verstehen, das einen Rückgriff auf Art. 6sowie dessen Abs. 4ausschließt. Zudem enthält Art. 9auch keinen Verweis auf Art. 6 oder dessen Abs. 4, so dass die Voraussetzungen von Art. 9nicht in unmittelbarem Bezug zu Art. 6stehen.[52] Gleichwohl nennt Art. 6 Abs. 4 lit. causdrücklich die besonderen Kategorien personenbezogener Daten nach Art. 9als Abwägungskriterium. ErwG 51 S. 5 stellt zudem klar, dass für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Verarbeitung zusätzlich zu den speziellen Anforderungen an eine Datenverarbeitung auch die allgemeinen Grundsätze und andere Bestimmungen der Verordnung gelten sollen, insbesondere hinsichtlich der Bedingungen für eine rechtmäßige Verarbeitung und nimmt damit zumindest indirekt auch Bezug auf Art. 6.[53] Insofern ist davon auszugehen, dass Art. 9den Art. 6nicht verdrängt, sondern sich die Rechtmäßigkeit einer Verarbeitung sensibler Daten aus einer Zusammenschau der Anforderungen aus Art. 6 und 9 ergibt.[54]
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Gleichwohl ist zu beachten, dass im Sinne des risikobasierten Ansatzes der DS-GVO sowie unter teleologischen Aspekten aufgrund des hohen Schutzes sensibler Daten infolge der Eingriffsintensität erhöhte Eingriffsvoraussetzungen nach Art. 9gelten und daher eine Anwendbarkeit von Art. 6jedenfalls dann problematisch ist, wenn dadurch das durch Art. 9intendierte Schutzniveau gesenkt würde.[55] Art. 9sperrt insofern die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 lit. fund damit einen Rückgriff auf die allgemeine Interessenabwägungsklausel im Rahmen der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten.[56] Zum Verhältnis von Art. 6und 9im Rahmen der Videoüberwachung vgl. Rn. 81. Ebenso kann eine Weiterverarbeitung sensibler Daten nicht ohne Weiteres nach Art. 6 Abs. 4zulässig sein.[57] Indem Art. 9somit eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darstellt, lässt sich die Systematik daher so deuten, dass Art. 6Mindestvoraussetzungen normiert und Art. 9dabei eine konkretisierende Vorschrift für die Verarbeitung sensibler Daten darstellt.[58] Um aber das hohe Schutzniveau des Art. 9nicht zu unterlaufen, darf Art. 6 Abs. 4keinesfalls dazu missbraucht werden, Datenverarbeitungen zu rechtfertigen, die zu einer Aushöhlung von Art. 9führen.[59] Dabei lässt sich aus der Nennung von Art. 9im Rahmen von Art. 6 Abs. 4keine Aussage dahingehend entnehmen, dass eine Zweckänderung im Rahmen sensibler Daten nach Art. 6 Abs. 4zulässig sein soll, weil die Erwähnung von Art. 9im Rahmen der Abwägung auch ein Ausschlusskriterium im Rahmen der Vereinbarkeitsprüfung darstellen kann.[60] Der fehlende Verweis in Art. 9auf Art. 6 stützt diese Annahme.[61] Für ein restriktives Verständnis spricht zudem ErwG 51 S. 4, der postuliert, dass eine Verarbeitung sensibler Daten nur unter den besonderen Voraussetzungen des Art. 9zulässig sein soll.[62] Folglich sind bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten sowohl die Voraussetzungen von Art. 6als auch von Art. 9zu beachten. Hinsichtlich der Zulässigkeit einer zweckändernden Weiterverarbeitung verdrängt Art. 9als speziellere Norm Art. 6 Abs. 4jedenfalls dann, wenn dadurch das Schutzniveau von Art. 9gefährdet würde.[63] In diesem Fall kann eine Verarbeitung sensibler Daten nicht ausschließlich über Art. 6 Abs. 4gerechtfertigt werden.[64] Hinzutreten muss stets ein Erlaubnistatbestand aus Art. 9. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf die Zulässigkeit der Auswertung besonderer Kategorien personenbezogener Daten bei Big Data-Anwendungen, da Art. 6 Abs. 4die Verarbeitung sensibler Daten nicht eigenständig rechtfertigen kann. Die Zulässigkeit der Verarbeitung richtet sich im Ausgangspunkt nach Art. 9.[65] Eine Anwendung von Art. 6 Abs. 4kommt damit nur dann in Betracht, wenn für die ursprüngliche Datenverarbeitung ein Erlaubnistatbestand nach Art. 9vorliegt. Der Weg über Art. 6 Abs. 4ist allerdings dann versperrt, wenn sich die Datenverarbeitung auf eine Einwilligung der betroffenen Person nach Art. 9 Abs. 2 lit. astützt. Dies geht aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 4hervor. Art. 6 Abs. 4kann daher nur im Rahmen von Art. 9 Abs. 2 lit. b–jherangezogen werden.[66]
B. Kommentierung zu Art. 9
I. Allgemeines und Regelungszweck
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Art. 9schafft für sensible Datenkategorien einen erhöhten Schutz, indem er besondere Zulässigkeitsvoraussetzungenund damit erhöhte Rechtmäßigkeitsanforderungen normiert. [67]
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Der hauptsächliche Schutzzweck von Art. 9besteht somit ausweislich des ErwG 51 S. 1 in dem Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere dem Grundrecht auf Datenschutzaus Art. 7 und 8 GRCh sowie dem Schutz vor Diskriminierungennach Art. 21 GRCh (vgl. Art. 14 EMRK, Art. 3 Abs. 3 GG).[68] Vom Schutz nach Art. 9werden aber nicht alle rechtlich geschützten Diskriminierungsmerkmale erfasst, insbesondere nicht die in §§ 1, 8 und 10 AGG genannten Daten über das Alter und das Geschlecht.[69]
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Das besondere Schutzregime dient auch dem Schutz spezifischer Grundrechte, so etwa der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10 GRCh) sowie der freien politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung (Art. 11 und 12 GRCh, Art. 5 und 9 GG).[70]
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Art. 9unterscheidet zwei Kategorien sensibler Daten. Zum einen schützt Art. 9die Verarbeitung von Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen. Ausreichend ist also, dass sich das sensible Datum mittelbar aus anderen Inhaltsdaten ergibt. Zum anderen schützt Art. 9genetische und biometrische Daten sowie Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung als solche.[71] Insofern schützt Art. 9nicht nur Daten, die ausdrücklich im Katalog des Art. 9 Abs. 1genannt sind, sondern es werden auch mittelbare Hinweiseauf diese Merkmale dem besonderen Schutz unterworfen.[72] Es kommt dabei auf den vermittelten Informationsgehaltan, nicht auf die Art und Weise der Darstellung und Bezeichnung. Abzustellen ist dabei auf den Verständnis- und Interpretationshorizont des durchschnittlichen Empfängers im jeweiligen Verarbeitungskontext.[73] Problematisch im Hinblick auf mittelbare Hinweise zu Merkmalen i.S.d. Art. 9ist dabei insbesondere das Verhältnis zu Art. 6 . Zentral geht es um die Frage, ob ein weites Verständnis von Art. 9 Abs. 1dazu führt, dass die Erlaubnistatbestände aus Art. 6verdrängt werden, da letztlich eine Vielzahl von Informationen Rückschlüsse auf sensible Daten zulassen.[74] Teilweise wird im Falle von mittelbaren Hinweisen vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Norm einschränkend eine Verarbeitungs- und Auswertungsabsicht des Verantwortlichen gefordert.[75] Während die Art.-29-Datenschutzgruppe[76] die Notwendigkeit eines hohen Schutzniveaus betont, wird in diesem Sinne vorgebracht[77], dass es bei der Ableitung von Angaben auf den Verwendungszusammenhangund eine Auswertungsabsichtankomme, um den Schutzbereich der sensiblen Daten (mit den Anforderungen an eine Verarbeitung aus Art. 9) nicht unnötig auszuweiten. Die DSK vertritt ein restriktives Verständnis des Anwendungsbereichs von Art. 9und verweist darauf, dass „nicht jede mittelbare Angabe zu den besonderen Kategorien personenbezogener Daten die Anwendung der speziellen (. . .) Verarbeitungsbestimmungen nach sich ziehen“.[78] Die eindeutige Identifizierung der betroffenen Person müsse im Vordergrund stehen, so dass letztlich eine besondere Zweckbestimmungdie Anwendbarkeit von Art. 9auslöse.[79] Dies ist folgerichtig, da in der Praxis aus einer Vielzahl von Informationen sensible Daten hervorgehen können und so der Anwendungsbereich von Art. 9gegenüber Art. 6 systemwidrig ausgeweitet würde (vgl. dazu auch Rn. 165). Unabhängig von der Beantwortung der Frage bleibt die Notwendigkeit einer Beurteilung im konkreten Einzelfall bestehen. Die Beurteilung hat sich dabei an den Schutzzwecken des Art. 9zu orientieren.[80]
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