216
Nach dem Wortlaut des § 93a BVerfGG kommt es für die Entscheidung über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde nicht auf die Erfolgsaussicht einer Verfassungsbeschwerde an. Sie ist jedoch zum zahlenmäßig vorherrschenden – ungeschriebenen – Nichtannahmegrund geworden.[42] Das BVerfG betont selbst: „ Ein besonders schwerer Nachteil ist (…) dann nicht anzunehmen, wenn die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder wenn deutlich abzusehen ist, dass der Bf. auch im Falle einer Zurückverweisung im Ergebnis keinen Erfolg haben würde.“[43]
217
Es wäre nicht arbeitsökonomisch, eine Verfassungsbeschwerde zunächst zur Entscheidung anzunehmen, um sodann festzustellen, dass sie unzulässig oder unbegründet ist und deswegen verworfen werden muss. Bei der Prüfung des Annahmegrundes des § 93a Abs. 2b BVerfGG wird daher zusätzlich eine (Vor-)Prüfung der Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde in der Sache praktiziert.
218
Wenn Zulässigkeit und Begründetheit bereits bei der Entscheidung über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde die entscheidende Rolle spielen,[44] dann gilt dies vor allem bei der Durchsetzungsannahme des § 93a Abs. 2b BVerfGG, ist aber – wie oben erwähnt – auch bei § 93a Abs. 2a BVerfGG nicht auszuschließen. Das Merkmal „zur Durchsetzung“ stellt jedenfalls anders als der Verweis auf die grundsätzliche Bedeutung einen Bezug zum Erfolg der Verfassungsbeschwerde her.[45] Die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung gem. § 93a Abs. 2 BVerfGG ist dann nicht „angezeigt“ bzw. ein „besonders schwerer Nachteil“ dann nicht anzunehmen, wenn sie keine hinreichende Erfolgsaussicht in der Sache hat oder wenn deutlich abzusehen ist, dass der Beschwerdeführer auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde.[46] Die Kammern haben auch hier einen weiten Entscheidungsspielraum entsprechend dem grundsätzlich entgegen dem Gesetzeswortlaut praktizierten freien Annahmeermessen.
219
Das – ungeschriebene – Kriterium der Erfolgsaussicht ist aber nur eine Voraussetzung für die Annahme einer Verfassungsbeschwerde. Zusätzlich muss in jedem Fall eine der geschriebenen Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2a oder b BVerfGG (= grundsätzliche Bedeutung oder Angezeigtsein) vorliegen. Daher muss nicht jede zulässige und begründete Verfassungsbeschwerde auch zur Entscheidung angenommen werden. Vielmehr kann es auch geschehen, dass eine zulässige und begründete Verfassungsbeschwerde beispielsweise wegen ihres geringen sachlichen Gewichts nicht zur Entscheidung angenommen wird.[47] Dementsprechend kann auch aus einer Nichtannahme nicht in jedem Fall gefolgert werden, dass die Verfassungsbeschwerde keine Erfolgsaussicht hatte. Dies zeigen u.a. die Fälle, in denen das BVerfG in einer Begründung der Nichtannahmeentscheidung selbst deutlich zum Ausdruck bringt, dass es die Ausgangsentscheidung für grundrechtswidrig erachtet, eine Annahme aber ausscheide mangels grundsätzlicher Bedeutung oder Angezeigtseins.
dd) Annahme nach Grundsatzentscheidung in anderer Sache
220
Eine Nichtannahme kommt auch dann in Betracht, wenn das BVerfG einen vergleichbaren Fall bereits entschieden hat, selbst wenn dies nach Einlegung der Verfassungsbeschwerde geschieht. Dies entspricht der Praxis,[48] was allerdings in der Literatur auf Kritik stößt, wenn dort u.a. argumentiert wird, eine Bevorzugung des Beschwerdeführers, dessen Sache zur Entscheidung angenommen werde, könne im Einzelfall zufälligen Charakter haben; dies sei – so Gehle[49] – nicht hinnehmbar. Das BVerfG praktiziert jedoch durchaus vertretbar eine Art Prioritätsgrundsatz; dies entspricht dem weitgehend „freien Annahmermessen“.[50] Für die Praxis des BVerfG spricht zudem der oftmals festzustellende Trittbrettfahrereffekt; Beschwerdeführer legen z.B. gegen Gesetze Verfassungsbeschwerden ein, nachdem sich Erfolgsaussichten in anderen Verfahren abzeichnen.
5› III› 2. Sonderfälle
221
Nicht ganz so strenge Anforderungen stellt das BVerfG gelegentlich bei einzelnen Urteilsverfassungsbeschwerden, falls gerügt wurde die Verletzung
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der Art. 103 Abs. 1 oder Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG oder |
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des Grundrechts auf faires Verfahren oder |
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ein Verstoß gegen das Willkürverbot. |
In diesen Fällen hat das Gericht in der Vergangenheit auch bei Fällen geringerer Bedeutung Verfassungsbeschwerden angenommen. Die Tendenz ist aber uneinheitlich.
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Beispiel
Das BVerfG nahm eine Verfassungsbeschwerde gegen ein einer Klage über 610 DM stattgebendes Urteil nicht an. Das Urteil war verkündet worden, obwohl die Frist zur Erwiderung auf die Klage noch nicht abgelaufen war. Der Richter hatte dazu angegeben, er habe den Fristablauf „versehentlich falsch“ berechnet. Das BVerfG stellte im Hinblick auf § 93a Abs. 2 BVerfGG fest, eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung bestehe nicht, die „Tragweite“ des Anspruchs auf rechtliches Gehör sei nämlich hinreichend geklärt, die Rechtsverletzung habe „weder besonderes Gewicht“ noch betreffe sie den Beschwerdeführer „in existentieller Weise“.[51]
223
Das BVerfG hatte früher in vergleichbaren Fällen von willkürlichen Fehlentscheidungen einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben. In der Tat ist es aber nicht einzusehen, warum bei der Verletzung von Verfahrensrechten weniger strenge Anforderungen gelten sollen als bei materiellen Grundrechten. Ist die aus der fehlerhaften Entscheidung resultierende Belastung des Betroffenen gering, handelt es sich z.B. nur um einen vergleichsweise geringen materiellen Schaden bzw. eine niedrige Geldbuße, dann erscheint es vertretbar, dass das BVerfG – letztlich aus funktionell-rechtlichen Gründen – die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnt bzw. in Bagatellfällen auch eine Mißbrauchsgebühr verhängt.[52]
5› III› 3. Teilannahme
224
In beiden Fällen des § 93a Abs. 2 BVerfGG ist eine Teilannahme möglich.[53] So wird bei lit. a durch das Merkmal „soweit“ klargestellt, dass im Umfang begrenzter grundsätzlicher Bedeutung auch eine Teilannahme in Betracht kommt. Das gleiche gilt, wenn einzelne Rügen unzulässig sind, z.B. wegen prozessualer Überholung.[54]
[1]
Vgl. Umbach/Gehle § 93a Rn. 4; vgl. auch EGMR StraFo 2006, 406: Zulässige Individualbeschwerde trotz wegen angeblichem Begründungsdefizit unzulässiger Verfassungsbeschwerde.
[2]
Vgl dazu u.a. Schlaich/Korioth Rn. 262 m.w.N.
[3]
So Umbach/Gehle § 93a Rn. 1258 unter Berufung auf vergleichbar idealistisch denkende Autoren wie Benda/Klein Verfassungsprozessrecht, Rn. 379; Vosskuhle in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 94, Rn. 39.
[4]
Vgl. BVerfGE 90, 22, 24; BVerfGE 96, 245, 248 f.
[5]
Vgl. auch §§ 39–42 GO-BVerfGG.
[6]
Insofern besteht eine Parallele zur „allgemeinen Bedeutung“ in § 90 Abs. 2 BVerfGG.
[7]
Vgl. § 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG.
[8]
BVerfGE 90, 22, 24 f.; so auch der 2. Senat: BVerfGE 95, 96, 127.
[9]
BVerfG NJW 2006, 1783 m.w.N.
[10]
BVerfGE 90, 22, 24; 96, 245, 248.
[11]
Nicht darf es um die Klärung tatsächlicher Fragen gehen, BVerfGE 131, 143 ff.
[12]
Vgl. auch BVerfG NJW 2003, 196. Die Beantwortung einfachrechtlicher Fragen ist allenfalls dann Aufgabe des BVerfG, wenn und soweit sie Voraussetzung für die Klärung verfassungsrechtlicher Vorgaben ist (vgl. z.B. BVerfGE 68, 176, 188).
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