„Ist ja ganz schön was los“, stellte Nelly fest, denn es tummelten sich natürlich schon eine Menge Menschen auf dem Eis.
Cole hielt ihr seine Hand hin. „Komm, Prinzessin, wir stürzen uns ins Getümmel!“
Das taten sie. Die ersten Schritte waren noch wacklig und Nelly war froh um Coles Arm, an dem sie sich festhalten konnte. Doch mit jedem Meter wurde sie mutiger. Sie fand den richtigen Rhythmus und glitt verträumt über die schimmernde Fläche. Gott, es war ewig her, dass sie Schlittschuh gelaufen war! Allmählich kam alles zurück, selbst die Unbeschwertheit, die sie als Kind dabei gespürt hatte. Sie lachte übermütig, als sie stolperte und sich gerade noch rechtzeitig an der Bande festhalten konnte, stieß sich aber sofort wieder ab und glitt auf Cole zu.
„Es ist großartig!“, rief sie atemlos. „Ich hatte völlig vergessen, wie schön das sein kann.“
Cole hatte sich eine rote Mütze über die Haare gezogen und sah mit seinem Bart ein bisschen aus wie ein freundlicher Waldschrat. Auch er grinste.
„Du flitzt ja hier rum, als würdest du dich für eine Rolle in ‚Die Eiskönigin‘ bewerben“, neckte er sie.
Nelly versuchte eine Drehung, ruderte mit den Armen und musste sich schließlich an seiner Schulter einkrallen, wobei sie aus dem Lachen nicht herauskam. Alles war so leicht! So herrlich glitzernd und schimmernd und voll Lebendigkeit. Einfach übers Eis gleiten, die Arme zur Seite strecken, den Wind spüren. Dazu Musik aus den Lautsprechern, das Kichern von kleinen Kindern, und über allem dieser klare Januarmond, der sicher jeden Moment seinen Mund zu einem vergnügten Lächeln verziehen würde, weil er sein Silberlicht auf eine so schöne Szenerie werfen durfte. Viel zu lange hatte Nelly die Schwere gefühlt, hatte in die Dunkelheit geschaut und die traurigen Seiten des Lebens wahrgenommen. Nun kam es ihr vor, als würde das Pendel zumindest für diesen Abend in die andere Richtung ausschlagen und sie mit fröhlicher Lebenslust überhäufen. In den Fensterscheiben der Hochhäuser spiegelten sich die Sterne, am unteren Rand der beheizten Galerie, von der aus man den Eisläufern zuschauen konnte, hingen lustige Eiszapfen und die Atemluft der Schlittschuhfahrer ließ helle Wölkchen entstehen.
Nelly wurde übermütig, sie drehte sich um, versuchte, rückwärts zu laufen, und brachte irgendwie ihre Beine durcheinander. Mit einem Plumps fiel sie auf ihr Hinterteil.
„Autsch.“ Grinsend drückte sie ihre Hände, die zum Glück in Handschuhen steckten, auf die Eisfläche, um sich in den Kniestand zu drehen und wieder aufzurichten. Von einem kleinen Sturz ließ sie sich nicht unterkriegen, sie würde gleich wieder stehen und weiter herumflitzen.
Da spürte sie etwas.
Wo bisher nur die federleichte Heiterkeit in ihrem Bauch gekribbelt hatte, als hätte sie eine Familienpackung Brausepulver verschluckt, breitete sich ein anderes Gefühl aus. Eines, das so mächtig war, dass sie einen Moment lang sitzen bleiben musste, weil ihre Knie zitterten.
Sie sah auf. Hunderte von Beinen, Jacken, Kufen um sie herum – unmöglich, hier jemanden zu erkennen. Und doch … dass ihr Magen sich so zusammenkrampfte und gleichzeitig vor Wärme fast überquoll, das hatte sie nur bei einem einzigen Menschen gespürt. Bei Julian.
Nelly sprang auf die Beine. Noch nie war ihr das gelungen, immer hatten die anderen Kinder sie ausgelacht, weil sie zwar ganz ordentlich fahren konnte, aber sich beim Aufstehen anstellte wie ein tapsiger Grizzlybär. Heute jedoch schaffte sie es innerhalb von Sekunden, auf den Kufen zu stehen.
Wo war er?
Oder hatte sie es sich nur eingebildet?
Ihr Bauch verneinte, indem er weiterhin vibrierte wie einer dieser riesigen Gongs vor einem tibetanischen Tempel. Reglos stand Nelly auf dem Eis, starrte nur auf das Gewusel rings um sie herum, versuchte etwas zu erkennen. Ihn zu erkennen. Seinen dunklen Haarschopf, seine typischen Bewegungen, seine Augen. Sie musste noch ein einziges Mal in diese Augen schauen!
Dort hinten! Eine Steppjacke in Sienabraun. Ihr Herz hämmerte wild los, als sie den Mann sah. Das waren Julians Haare! Nelly bewegte sich hektisch, drängte sich durch die Menge, beachtete Cole nicht, der ihr irgendwas zurief. Ein paar Jugendliche mit Hockeyschlägern kreuzten ihre Bahn, sie musste ausweichen. Sah die Jacke nicht mehr.
„Verflixt, passt doch auf!“, fuhr sie die Rowdys an. Nahm die Verfolgung wieder auf. Plötzlich waren da zwei hellbraune Jacken, eine vor ihr, eine hinter ihr. Nellys Hände zitterten. Welche davon war Julian?
Sie überließ sich ihrem Bauchgefühl. Die Jacke vor ihr war genau in dem Sienabraun, das er bei seinem Aquarell verwendet hatte, um das Schilf am Uferrand zu malen. Kein dunkles Vandycke, kein ins Olivgrün fließendes Umbra natur, nein, es war genau dieses Braun.
„Julian!“, rief sie über die Eisfläche, obwohl er sie natürlich nicht hören konnte. Viel zu voll war es, viel zu laute Musik, zu knirschende Kufen, zu eifrige Gespräche. Aber vielleicht würde er sie spüren? So wie sie ihn?
Jemand packte sie am Ärmel. Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Sie fuhr herum, kaum fähig, auch nur zu atmen.
„Willst du jetzt auch noch unter die Eisschnellläufer gehen?“ Es war nur Cole.
„Nein, es ist …“, stammelte sie. „Ich glaube, ich habe Julian gesehen. Es fühlt sich zumindest so an.“
Coles buschige Augenbrauen trafen sich fast in der Mitte. „Es fühlt sich so an?“, wiederholte er ungläubig und schüttelte den Kopf. „Also echt, Nelly, manchmal glaub ich, du hast in deinem alten Job zu viel Lösungsmittel geschnüffelt.“
„Ich muss die Jacke finden“, erklärte sie unbeirrt und wandte sich von ihm ab. „Hilf mir suchen! Sie ist sienabraun.“
Schon fuhr sie wieder los. Erst nach den ersten Metern in Richtung des hinteren Teils der Eisfläche fiel ihr auf, dass Cole bestimmt keinen Schimmer hatte, wie diese Farbe aussah. Egal. Wenn jemand Julian finden konnte, dann wäre es sie selbst, das spürte sie deutlich.
Runde um Runde glitt sie übers Eis, die Augen unermüdlich auf der Suche nach der Steppjacke. Der Knoten in ihrem Bauch schnürte sich mehr und mehr zusammen, denn es kam ihr immer unwahrscheinlicher vor, dass sie ihn finden würde. „Aber ich habe dich doch gefühlt!“, flüsterte sie sich selbst zu, als ihre Beine müde wurden und die Kälte des Eises in ihre Knochen kroch. Alles vergebens. Sie hätte ihm längst begegnen müssen.
Geschrei hinter ihr. Die Hockey-Jungs beließen es nicht mehr nur dabei, auf den Puck einzudreschen, sondern verprügelten sich jetzt gegenseitig. Einer wurde gegen Nelly geschleudert, riss sie mit, sie krachten gegen die Bande.
„Sag mal, spinnst du?“, brüllte sie den Rüpel an und rieb sich den schmerzenden Ellbogen, mit dem sie aufgeprallt war.
„Sorry“, nuschelte der Teenager und stürmte schon wieder los, auf die anderen zu.
Wild gewordene Ameisen kribbelten bis in Nellys Fingerspitzen und vertrieben für einen Moment die Unruhe in ihrem Magen. Sie fluchte noch mal vor sich hin, weil der Arm immer noch wehtat. Gerade wollte sie nach Cole Ausschau halten, der sicher schon Eiszapfen als Beine hatte, da fiel ihr Blick auf die Leute, die auf der anderen Seite die Eisfläche verließen. Einer der Männer trug eine sienafarbene Jacke.
Ohne zu überlegen, flitzte sie los. Wich mit traumwandlerischem Geschick allen entgegenkommenden Läufern aus, fuhr einen gewagten Bogen um die Hockeyspieler, landete atemlos am Ausgang. Sah ihn, seinen Rücken, in Rufnähe. Krallte sich an der Bande fest. Spürte ein eisiges Schwert der Enttäuschung in ihre Brust eindringen.
Er war es nicht. Der Mann, der Julian von hinten tatsächlich zum Verwechseln ähnlich sah, führte ein Kind an der Hand. Einen kleinen Jungen – oder war es ein Mädchen? – der ihn glücklich anlächelte. So wie ein Kind nur den Menschen anlächelt, zu dem es die engste aller Beziehungen hat, mit ganz viel Liebe und Vertrautheit. Sie wusste aber ganz sicher, dass ihr echter Julian keine Kinder hatte. Das hätte er ihr gesagt. Sie waren so ehrlich miteinander umgegangen an diesem Sommertag, hatten von den geheimsten Wünschen gesprochen, sich beide so sehr geöffnet – da war kein Platz für Unwahrheiten gewesen.
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