Sie zog ihre Jacke an und verließ zusammen mit den anderen Arbeitern die Verpackungshalle, um über den Hof zum Ausgang zu gehen. Das Fabriktor quietschte, als hätte es keine Lust, sich für die hinausströmende Spätschicht zu öffnen. Nelly blickte es mitfühlend an. Es war schon ein bisschen verrostet und spürte womöglich die Januarkälte in seinen Stäben. Vielleicht hätte es seinen Dienst weniger widerwillig getan, wenn ihm jemand mal eine frische Lage Farbe zukommen ließe? Aber hier in der Fabrik hatte man für so etwas natürlich nichts übrig.
Im Vorbeigehen strich Nelly mit den Fingern über das kalte Metall, bevor sie sich ihre Handschuhe überstreifte. Sie hatte es nicht so eilig wie ihre Kollegen, die mit langen Schritten durch das Tor marschierten, um bald nach Hause zu kommen. Auf Nelly wartete niemand. Bis vorgestern war sie jeden Abend von ihrem Stubentiger namens Doktor Schiwago mit einem vorwurfsvollen Maunzen begrüßt worden, wenn sie heimgekommen war. Der Herr wartete nämlich ungern so lange auf sein Essen. Nach dem Dinner kam er dann angeschnurrt und kuschelte sich an sie, zumindest dann, wenn er Lust darauf hatte. Heute jedoch würde der Kater nicht um ihre Beine streichen, sobald sie den Flur betrat. Er war nicht mehr da. Vieles war nicht mehr da in Nellys Leben.
„Was treibst du heute noch?“, wollte Cole wissen.
Sie hob die Schultern. „Ich gehe ein paar Straßen entlang, an denen ich Fotos von Doktor Schiwago aufgehängt habe. Will schauen, ob jemand meine Telefonnummer abgerissen hat. Und vielleicht klebe ich noch ein paar Zettel an irgendwelche Laternenpfosten oder Hausmauern.“
Dass sie ähnliche Zettel – allerdings ohne Katzenbild, dafür mit einem „Bitte melde dich, Julian!“ rund um alle Ateliers und Zeichenschulen, die sie in Manhattan ausfindig machen konnte, an Wände geklebt hatte, verschwieg sie lieber. Es hatte sowieso nichts geholfen und außerdem war es ihr peinlich.
„Tut mir echt leid für dich.“ Cole legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Sicher taucht dein Kater bald wieder auf.“
„Ja, ganz bestimmt“, erwiderte sie, ohne viel Hoffnung in den Satz zu legen. Schiwago war noch nie ausgebüxt. Er war ein echter Hauskater und machte allenfalls kurze Ausflüge in die unmittelbare Nachbarschaft, kam aber immer wieder schnell heim. Dieses Mal nicht.
Um sich abzulenken, konzentrierte sich Nelly wieder auf ihren Kollegen, der neben ihr hermarschierte.
„Hast du heute wieder Basketball-Training?“, fragte sie. Cole spielte in einer Freizeitmannschaft, in der er allerdings geheim hielt, dass er auf Kerle stand. Fiel ihm sicher nicht schwer, denn mit seinem verbeulten Pick-up-Truck, dem Bart und den Holzfällerhemden, die er gern trug, wirkte er wie ein Vorzeige-Hetero.
Er grinste breit. „Klar! Wir haben eine Menge Spaß. Und ich freu mich nach dem Training auch immer, den Jungs in der Dusche auf den Hintern zu schauen.“ Lachend band er seinen Schal enger. Sein Atem stieg als feiner Nebel in die Luft und zeichnete sein Gesicht weich. Nelly sah ihn förmlich vor sich, heimlich lächelnd in der Dusche, Wasserdampf und glänzende Haut, unscharfe Konturen und nur ein paar Handtücher als Farbkleckse. Früher hatte sie sich einfach hingesetzt und die Szene auf eine Leinwand gepinselt, mit der sie ihn dann ein paar Tage später überrascht hätte. Doch irgendwie war ihr die Lust am Malen abhandengekommen.
„Na dann, frohes Sporteln!“, wünschte sie ihm.
„Soll ich dich mitnehmen? Ich bin heute mit dem Auto da, weil ich danach gleich weiterfahre.“ Er deutete zur Straßenecke, wo sein Pick-up wartete.
„Das ist lieb. Aber ich nehme die Bahn und laufe noch ein wenig durch die Straßen.“
„Okay. Wie du meinst.“ Er verabschiedete sich von ihr und eilte fröhlich pfeifend davon.
Nelly ging ein paar Schritte an der abblätternden Mauer entlang, blieb dann stehen und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war heute Monet. Obwohl die Kälte sie in die Wangen kniff, musste sie lächeln. Schon als Kind hatte sie sich angewöhnt, den Himmel genau zu betrachten. Sie war beim Versteckspielen immer als Erste gefunden worden, aber das hatte sie nie gestört. Wer konnte sich denn einen guten Unterschlupf aussuchen, wenn am Horizont gerade ein leuchtendes Orange explodierte oder ein riesiger Aquarellpinsel die Farben verwischte? Später war sie dann in jede Kunstgalerie gepilgert, die sie finden konnte, und hatte die Landschaftsbilder genau studiert. Dabei war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass nicht nur jeder Maler seine eigene Art hatte, den Himmel zu malen, sondern der Himmel schließlich auch jeden Tag anders aussah. Gerade so, als würde er morgens zu einer Kim Kardashian mutieren und sich vor dem Spiegel überlegen, welches Kleid er anziehen solle. „Nehmen wir einen kräftigen Cranach oder lieber einen kreativen Van Gogh?“ Heute hatte sich der Winterhimmel ganz offensichtlich für einen Impressionisten entschieden, für die sanften Pastelltöne von Monets Bild „Die Elster“, einer zarten Winterlandschaft. Julian hätte gewusst, was sie damit meinte. Aber er war nicht hier, um sich mit ihr über die Farben des Himmels zu unterhalten.
Als sie weiterging, blies ihr ein stechender Wind um die Nase. Natürlich hätte sie den Bus nehmen können. Oder vielleicht sogar auf Coles Angebot eingehen. Doch sie mochte es, noch ein wenig durchs verschneite New York zu laufen. Oder zumindest redete sie sich das ein, denn die Aussicht auf einen einsamen Abend zu Hause war nicht besonders verlockend. Die Weihnachtsdekorationen waren längst abgebaut worden, hinter den Fenstern flackerte kein Kerzenschein mehr, sondern das bläuliche Licht der Fernsehgeräte. Ganz vereinzelt sah Nelly noch einen bunt blinkenden Schneemann, und in einem der winzigen Vorgärten stand tatsächlich ein beleuchtetes Rentier inklusive roter Nase herum. Ob dort Kinder wohnten?
Nelly blieb am Gartenzaun stehen und versuchte, ein paar Details zu erkennen. Ja, es gab Spuren von kleinen Stiefeln im Schnee! Sie lächelte, aber nur einen kurzen Moment. Wie es sich wohl anfühlen musste, den Winter mit Kindern zu verbringen? Sicher war das etwas ganz Besonderes. Mit ihnen zum ersten Mal die dicken Flocken fangen, sich in die weiße Pracht legen und einen Schnee-Engel entstehen lassen, Schlitten fahren. Unvergessliche Momente, da war sie ganz sicher. Wie hatte sie den Winter geliebt als Kind! Doch jetzt – war es anders. Wie sollte man mit sich alleine um die Wette Flocken fangen? Und die Leute würden sie für verrückt erklären, wenn sie sich mitten im Central Park in den Schnee fallen ließ und mit den Armen wedelte, damit es am Ende wie Engelsflügel aussah. Wahrscheinlich würde man denken, sie hätte einen Anfall, und ihr eine Ladung Beruhigungsmittel verpassen.
Ihre Schritte waren schwerfällig, als sie weiterging. Ob sie diese Dinge jemals ihrem eigenen Kind zeigen konnte? Sie glaubte nicht recht daran. Sie war zu kompliziert für die meisten Kerle. Die wollten Frauen, mit denen man in einer Bar flirten konnte, die schlagfertig waren oder auf der Tanzfläche mit lasziven Bewegungen die Männerherzen zum Kochen und die Männer-Jeans zum Platzen brachten. Nelly war in solchen Sachen noch nie gut gewesen.
Sie kam an der U-Bahn an, nahm den Zug rüber nach Manhattan, wo sie an der 12. Straße eine kleine Wohnung hatte. In ihrer Tasche hatte sie noch ein paar Zettel, auf denen Doktor Schiwagos Foto und ihre Telefonnummer aufgedruckt waren. Klebestreifen hatte sie ebenfalls mitgebracht, so wanderte sie ein paar Straßen entlang und hängte noch einige Suchanzeigen auf.
Als sie um eine Ecke bog, schnupperte sie. Dieser Duft – der erinnerte sie an die Weihnachtsmärkte in ihrer Kindheit. Was genau war das? Sie machte ein paar Schritte die Straße entlang. Da sah sie es. Eine Holzbude, die mit Tannengrün geschmückt war, als wäre immer noch Advent. Es roch nach Glühweingewürz, nach Apfeltee mit Zimt – und nach heißen Maronen.
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