Natürlich! Es war der Geruch von gerösteten Esskastanien.
Nelly ging näher heran und erkannte, dass es eine Frau um die fünfzig war, die die „Maroni“ – wie ihre Grandma sie immer genannt hatte – liebevoll wendete. Sie hatte sich ein wollenes Kopftuch mit Folkloremustern um die braunen Haare gebunden, trug einen grünen Stoffmantel und Handschuhe, bei denen die Finger frei lagen.
Die Kundin, die gerade ihren Apfeltee entgegennahm, war das blanke Gegenteil der einfach gekleideten Maronifrau. Sie trug einen Mantel in leuchtendem Magenta, silberne Stiefel mit Pfennigabsätzen und ein spitzenbesetztes Hütchen. Dabei war sie bestimmt schon jenseits der siebzig.
„Von dem Geruch habe ich richtig Appetit bekommen“, sagte Nelly und lächelte die Maroni-Frau an. „Die kleinste Größe bitte.“ Sie deutete auf die Papiertütchen. Geld war zwar knapp, aber für eine Portion Kastanien reichte es noch.
„Das sind fünf Stück.“ Die Maroni-Frau holte die Maronen aus dem Ofen, füllte sie in das Tütchen und steckte die Münzen weg, die Nelly auf den Tresen gelegt hatte. Mit den freiliegenden Fingern konnte man gut kassieren, das wurde Nelly jetzt klar.
„Ich habe ewig keine mehr gegessen.“ Nelly schälte die erste Kastanie vorsichtig ab. Hui, die Dinger waren heiß! Aber sie schmeckten phantastisch, wie sie gerade feststellte.
„Probieren Sie den Apfelpunsch dazu“, schlug die bunt gekleidete Dame vor. „Ich lasse mir immer einen Schuss Rum reingeben, der wärmt von innen.“ Sie kicherte munter.
„Violetta, manchen Menschen reichen meine Maroni, damit ihnen nicht mehr kalt ist“, erwiderte die Verkäuferin lächelnd und nahm sich ebenfalls eine Kastanie, um sie zu essen.
„ Si , Mirena, da hast du recht. Aber die junge Dame hier sieht aus, als könnte sie ein klein wenig Wärme im Leben gebrauchen.“
Die alte Italienerin nickte ihr zu und sah sie lange an.
Nelly hielt sich an der kleinen Tüte fest. War es schon so weit gekommen, dass ihr wildfremde Menschen ansahen, wie es um sie stand? Sie wollte gerade weitergehen, weil ihr das nicht recht war, da hörte sie etwas. Ein Saxophon blies erste Töne, ließ eine zögerliche Melodie entstehen, die zu ihnen herüberschwebte und sich erst nach einigen Takten zu erkennen gab.
„ Time after time “, sagte Nelly und begann ganz automatisch, die Cyndi Lauper-Ballade mitzusummen.
„Wie bitte?“ Violetta sah sie fragend an.
„Das Lied!“, erklärte Nelly und machte einen Schritt nach hinten, um an der Bude vorbeizuschauen. An der nächsten Kreuzung stand ein alter Mann mit Schlapphut und einem Saxophon um den Hals. Daher kam also die Musik! „Da drüben spielt ein Straßenmusiker“, sagte sie, doch Violetta machte sich nicht die Mühe, zu ihm hinzusehen.
„Ach, mein Gehör lässt ein bisschen nach. Und diese neuen Canzone kenne ich sowieso nicht. Ich lege mir daheim gern Paolo Conte auf.“
Die Maroni-Frau grinste. Durch ihr Kopftuch aus Wolle drangen die Töne sicher auch nicht, aber das war egal. Sie hätte die Nummer wahrscheinlich ebenso wenig erkannt.
„Das Lied lief neulich im Radio, als ich mit meiner Katze am Fenster saß und …“ Nelly hielt inne. Die Erinnerung fiel sie so plötzlich an, wie Schiwago es gern am Sonntagmorgen getan hatte, wenn er schwungvoll in ihr Bett gehüpft und auf ihr herumgetrampelt war.
„Ist das die Mietze auf dem Foto?“ Mirena deutete auf den Zettel, den Nelly noch in der Hand hielt, und sah ihn genauer an. „Der schwarze Kater mit dem weißen Ohr?“
Sie nickte. „Er ist seit drei Tagen weg. Ich habe überall Suchanzeigen aufgehängt, aber bisher hat sich niemand gemeldet.“
„Wir kleben einen der Zettel hier an die Bude“, entschied Mirena kurzerhand. „Vielleicht fällt ja jemandem etwas ein.“
Violetta streckte ihr ebenfalls die Hand hin. „Geben Sie mir auch einen. Meine Nichte Emilia hat eine Konditorei, da kommen viele Leute vorbei. Aber sagen Sie – warum hat Ihr Kater so einen seltsamen Namen?“
Nelly wurde ganz warm bei so viel Mitgefühl. „Ich habe ihn bekommen, als er noch ganz klein war. Eigentlich hätte ich lieber eine Katze gehabt, hatte auch schon einige Namen ausgesucht, unter anderem Lara. Aber irgendwie landete dann der namenlose Kater bei mir. Er spielte mit allem, was ihm in die Pfoten kam, auch mit der Fernbedienung. Bekam dann aber einen Riesenschreck, als der Fernseher ansprang und bunte Bilder erschienen.“ Bei der Erinnerung musste sie lachen. Wie ein Blitz war der Kater hinter der Couch verschwunden und nur noch ein jämmerliches Maunzen war zu hören gewesen. Nelly hatte ihn vom Boden aufgeklaubt und auf ihren Schoß gesetzt, da war die Titelmelodie dieses uralten Films angelaufen. Und weil der kleine Kerl sich urplötzlich beruhigt hatte, nannte sie ihn dann natürlich Doktor Schiwago.
„Sie haben ihn so getauft, weil der Film mit Omar Sharif gezeigt wurde?“, fragte Mirena. „Das gefällt mir.“
„Er hat gerne Musik gehört“, sagte Nelly leise. Der Cyndi Lauper-Song war beim Refrain angekommen. Wenn du verloren bist, schau dich um und du wirst mich finden , lautete der Text, den sie hörte, obwohl nur das Saxophon sang. Ach, wenn das doch nur wahr wäre!
„Manchmal saß er auf dem Fensterbrett und schaute hinaus.“ Nelly redete mehr zu sich selbst, aber die beiden Frauen standen nah bei ihr und sahen sie ermunternd an. „Ich habe mir dann immer einen Stuhl geholt und mich dazugesetzt. Er mochte es, wenn Schnee fiel. Da wurde er ganz ruhig, nur seine Augen haben sich bewegt und fasziniert den Fall der Flocken verfolgt. Ich habe ihn gestreichelt, hinter den Ohren mochte er es am liebsten. Oft habe ich sogar meinen Kopf in sein weiches Fell gelegt. Er hat das nicht immer zugelassen, aber neulich sogar ganz lange. Da lief genau dieses Lied im Radio und wir saßen ganz still, Schiwago und ich, nur diese Musik war bei uns und der lautlose Schneefall, der alles überzuckerte und die ganze Welt in so ein wunderbares Weiß tauchte.“
Warum war er nur weg? Nelly musste schlucken und schälte schnell eine Kastanie ab, um nicht weinen zu müssen. Es war so schön gewesen mit ihm. Und er hatte noch gar nicht so arg viele Jahre auf dem Katzenbuckel, sie hätten sicher noch lange zusammen den Schneeflocken zusehen können und dem Regen, wenn er nimmermüde seine Bahnen an der Fensterscheibe zog und dem Herbst, der im goldenen Licht die roten Blätter herumwirbelte.
„Nehmen Sie noch ein paar.“ Mirena hielt ihr ein neues Tütchen hin, und Violetta hatte ihre Hand auf Nellys Arm gelegt.
Dankbar lächelte Nelly die beiden Damen an. „Sind Sie zu allen Menschen so nett?“
Die Italienerin lachte. „Kindchen, ich habe auch ganz andere Seiten, täuschen Sie sich da nicht!“ Ihre Freundin nickte bestätigend.
Es war Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen. Nelly konnte ja nicht den ganzen Abend hier herumhängen. „Wir sehen uns sicher bald wieder“, rief sie und winkte freundlich.
„Ganz bestimmt!“
Sie ging die Straße entlang, die Töne wurden lauter. Genau, als der Musiker seinem Saxophon den letzten, wehmütigen Ton entlockte, stand Nelly vor ihm. Der Mann hatte ein zerfurchtes Gesicht, trug einen fleckigen Mantel und einen seltsamen Schlapphut, aber sein Lächeln war voller Wärme. Nelly fand ein paar Münzen in ihrer Jackentasche und warf sie in die Schale, die er vor sich aufgestellt hatte.
„Danke, meine junge Dame.“ Seine Stimme klang so rau, als hätte er sie lange nicht mehr benutzt. Vielleicht spielte er lieber, als dass er redete. Manchen Menschen fiel es leichter, sich auf diese Weise auszudrücken. Sie wollte gerade gehen, da hielt ihr der Mann etwas entgegen.
Eine blank polierte, braun glänzende Haselnuss.
Überrascht sah Nelly ihn an, doch er nickte ihr nur stumm zu und streckte ihr weiterhin seine Hand hin.
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