1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 In Deutschland führten ähnliche gesellschaftliche und unternehmerische Spannungen rund um Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und die Integration der neuen Bundesländer schließlich Anfang der 2000er-Jahre zu einem neuen Sozialpakt mit neuen Gesetzen zu Mitbestimmung, Minijobs und Arbeitslosengeld. Doch das neue Gleichgewicht war für einige weniger vorteilhaft als zuvor, und obwohl Deutschland danach zu einer Phase mit hohem Wirtschaftswachstum zurückkehrte, wurde die Situation für viele andere moderne Volkswirtschaften bald prekärer.
Ein erstes Warnzeichen war der Dotcom-Crash Ende 2000 und Anfang 2001, als Amerikas Technologiewerte in den Keller stürzten. Aber der größere Schock für die US-Gesellschaft und das internationale Wirtschaftssystem kam später im Jahr 2001. Im September dieses Jahres sahen sich die USA mit dem größten Angriff auf ihr Land seit dem Angriff auf Pearl Harbor im Zweiten Weltkrieg konfrontiert: den Terroranschlägen vom 11. September. Dabei wurden Gebäude getroffen, die sowohl das wirtschaftliche als auch das militärische Zentrum Amerikas darstellten: die Zwillingstürme des World Trade Center in Manhattan und das Pentagon in Washington, DC.
Ich war an jenem Tag in New York auf einem Arbeitsbesuch bei der UN, und wie jeder dort war ich zutiefst erschüttert. Tausende Menschen starben. Die Vereinigten Staaten kamen zum Stillstand. Als Zeichen der Solidarität organisierten wir im darauffolgenden Januar unser Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in New York – das erste, das außerhalb von Davos stattfand. Nach dem Dotcom-Crash und 9/11 gerieten die westlichen Volkswirtschaften in eine Rezession. Für einige Zeit war der Weg des Wirtschaftswachstums durch Handel und technologischen Fortschritt in der Schwebe.
Doch die Saat für einen erneuten Wirtschaftsaufschwung war bereits gelegt worden. China, das bevölkerungsreichste Land der Welt, hatte sich nach 20 Jahren Reform und Öffnung zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften entwickelt, wie die verstärkte Präsenz von ZF zeigte, und trat 2001 der Welthandelsorganisation bei. Was andere Länder an wirtschaftlicher Dynamik verloren hatten, gewann China und übertraf es sogar. Das Land wurde zur »Fabrik der Welt«, holte hunderte Millionen seiner eigenen Bürger aus der Armut und war auf seinem Höhepunkt für mehr als ein Drittel des globalen Wirtschaftswachstums verantwortlich. Davon profitierten nicht nur die Rohstoffproduzenten von Lateinamerika bis zum Nahen Osten und Afrika, sondern auch die westlichen Verbraucher.
Währenddessen begannen die verbliebenen sowie neuen Technologieunternehmen auf den Trümmern des Dotcom-Crashs den Grundstein für eine vierte industrielle Revolution zu legen. Technologien wie das Internet der Dinge (IoT, Internet of Things) rückten in den Vordergrund, und maschinelles Lernen – heute als »künstliche Intelligenz« bezeichnet – erlebte ein Revival und gewann schnell an Zugkraft. Mit anderen Worten: Handel und Technologie waren wieder einmal die beiden Motoren des globalen Wirtschaftswachstums. Im Jahr 2007 hatten die Globalisierung und das weltweite Bruttoinlandsprodukt neue Höchststände erreicht. Aber es war das letzte Hurra der Globalisierung.
Der Zusammenbruch eines Systems
Ab 2007 begann sich die Weltwirtschaft zum Schlechteren zu verändern. Die Motoren der größten Volkswirtschaften der Welt gerieten ins Stocken. Den Anfang machten die USA, wo eine Immobilien- und Finanzkrise in eine mehrere Quartale andauernde große Rezession mündete. Es folgte Europa mit einer Schuldenkrise, die 2009 begann und mehrere Jahre andauerte. Die meisten anderen Volkswirtschaften der Welt steckten in der Mitte fest, mit einer globalen Rezession im Jahr 2009 und einem realen Wirtschaftswachstum, das in der folgenden Dekade zwischen 2 und 3 Prozent schwankte. (Genauer gesagt, zwischen einem Tiefststand von 2,5 Prozent in den Jahren 2011 und 2019 und einem Höchststand von 3,3 Prozent im Jahr 2017, laut der Weltbank. 24 )
Langsames Wachstum scheint nun die neue Normalität zu sein, da der Motor allen Wirtschaftswachstums, die Produktivitätssteigerung, fehlt. Viele Menschen im Westen stecken in schlecht bezahlten, unsicheren Jobs fest, ohne Aussicht auf Besserung. Außerdem hatte der IWF schon lange vor der COVID-Krise festgestellt, dass die Welt ein nicht mehr tragbares Verschuldungsniveau erreicht hatte. 25 Auch die Staatsverschuldung, die zuvor in den Krisen der 1970er-Jahre einen Höchststand erreicht hatte, lag im Jahr 2020 in vielen Ländern wieder auf oder kurz vor dem Rekordniveau. Laut dem Fiskalmonitor 2020 des IWF erreichte die Staatsverschuldung in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften im Zuge der COVID-Krise mehr als 120 Prozent des BIP, ein Anstieg von über 15 Prozent in einem einzigen Jahr, und in den Schwellenländern schnellte sie auf über 60 Prozent des BIP hoch (von knapp über 50 Prozent im Jahr 2019). 26
Schließlich stellen immer mehr Menschen in Frage, wie sinnvoll es überhaupt ist, Wachstum als Indikator für Fortschritt zu verfolgen. Laut dem Global Footprint Network hat die Weltwirtschaft 27 1969 das letzte Mal die Ressourcen der Natur für den Planeten nicht »verschwendet«. Fünfzig Jahre später ist unser ökologischer Fußabdruck größer denn je, da wir mehr als das 1,75-fache der Ressourcen verbrauchen, die die Welt wieder auffüllen kann.
All diese makroökonomischen, sozialen und ökologischen Trends spiegeln sich in den allmählichen Auswirkungen von Entscheidungen wider, die von Einzelpersonen, Unternehmen und Regierungen auf lokaler und nationaler Ebene getroffen werden. Und es konfrontiert dieselben Gesellschaften, die das Zeitalter der Kriege, der Armut und der Zerstörung so weit hinter sich gelassen haben, mit einer unangenehmen neuen Realität: Sie sind reich geworden, aber auf Kosten von Ungleichheit und fehlender Nachhaltigkeit.
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Das Schwabenland im 21. Jahrhundert ist in vielerlei Hinsicht so wohlhabend wie eh und je, mit hohen Löhnen, geringer Arbeitslosigkeit und vielen Freizeitmöglichkeiten. Die schönen Innenstädte von Ravensburg und Friedrichshafen erinnern in keiner Weise an den traurigen Zustand, in dem sie 1945 waren. Ravensburg nimmt immer noch Flüchtlinge auf, aber diesmal sind die Kriege weiter weg. Sogar der Puzzle-Hersteller der Stadt hat sich an eine Welt der globalen Lieferketten und Puzzles angepasst, die durch digitale Spiele beeinträchtigt wird.
Aber das Puzzle, das die Menschen in dieser Region, ihre Getriebe- und Puzzle-Hersteller und andere gesellschaftliche Akteure hier und in anderen Teilen der Welt zu lösen haben, ist nicht einfach. Es ist ein globales Puzzle mit vielen komplexen und voneinander abhängigen Teilen. Bevor wir also versuchen, es zu lösen, müssen wir diese Teile auflisten. Dieser Aufgabe werden wir uns im nächsten Kapitel widmen. Und zu unserer Orientierung werden wir die Hilfe eines berühmten Wirtschaftswissenschaftlers in Anspruch nehmen.
1 170 Jahre Kriegsende, Schwäbische Zeitung, Anton Fuchsloch, Mai 2015 http://stories.schwaebische.de/kriegsende#10309.
2 2Wie der Krieg in Ravensburg aufhört, Schwäbische Zeitung, Anton Fuchsloch, Mai 2015, http://stories.schwaebische.de/kriegsende#11261.
3 3Year Zero, A History of 1945, Ian Buruma, Penguin Press, 2013, .
4 4Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Eurostat, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/pdfscache/1488.pdf.
5 5Friedrichshafen, Geschichte der Zeppelin-Stiftung, https://www.zeppelin-stiftung.de/stiftung-stifter/geschichte-der-stiftung/.
6 6Der Spiegel, Ein Jahrhundertprojekt, Oktober 2010, https://www.spiegel.de/fotostrecke/fotogalerie-ein-jahrhundert-projekt-fotostrecke-56372-5.html.
7 7Das Unternehmen wurde als Otto Maier Verlag gegründet und änderte seinen Namen später in Ravensburger.
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