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Anfang Februar 2020 saß ich in Genf, um mit einem Kollegen über dieses Buch zu sprechen, als das Telefon in meinem Büro klingelte. Dies sollte sich als Wendepunkt erweisen, als sich der Blick von der Zeit vor COVID-19 auf die Realität nach COVID-19 verlagerte.
Vor diesem Anruf hatten sich meine Kollegen und ich mit den langfristigen Herausforderungen der Weltwirtschaft beschäftigt, einschließlich Klimawandel und Ungleichheit. Ich hatte eingehend über das globale Wirtschaftssystem nachgedacht, das in den 75 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in den 50 Jahren seit der Gründung des Weltwirtschaftsforums geschaffen wurde. Dabei habe ich mich mit den verschiedenen Elementen unserer heutigen globalisierten Welt beschäftigt, einschließlich der Vorteile, Kompromisse und Gefahren. Dann dachte ich darüber nach, welche Änderungen am System in den nächsten 50 bzw. 75 Jahren notwendig wären, um sicherzustellen, dass es gerechter, nachhaltiger und widerstandsfähiger für zukünftige Generationen wird.
Doch mit einem Anruf wurde diese langfristige Agenda auf den Kopf gestellt. Mein Fokus verlagerte sich auf die unmittelbare Krise, mit der wir alle, in jedem Land der Erde, konfrontiert werden sollten.
Am anderen Ende der Leitung war der Leiter unserer Pekinger Repräsentanz in China. In der Regel handelt es sich bei diesen Anrufen um Routineangelegenheiten, die die Möglichkeit bieten, sich über bestehende Initiativen und Programme zu informieren. Aber diesmal war es anders. Der Direktor hatte mich angerufen, um mich über die Epidemie zu informieren, die China Anfang des Winters schwer getroffen hatte: Covid-19. Ursprünglich auf die Stadt Wuhan beschränkt, wurde dieses neuartige Coronavirus, das häufig schwere Atemwegserkrankungen auslöst, schnell zu einem landesweiten Problem für die öffentliche Gesundheit. Unser Kollege erklärte, dass viele Einwohner Pekings zu den Feierlichkeiten zum Neujahrsfest außerhalb der Stadt gereist waren und bei ihrer Rückkehr das neuartige Coronavirus mitbrachten, was zu einem großen Ausbruch und der anschließenden Abriegelung der Hauptstadt führte.
Mein Kollege behielt einen kühlen Kopf und lieferte objektive Fakten darüber, was der Lockdown für unsere Mitarbeiter und den Betrieb bedeutete. Aber an seiner Stimme konnte ich erkennen, dass er sehr besorgt war. Seine Familie und alle Menschen in seinem Leben waren davon betroffen, da sie mit den Gefahren einer Infektion und der Abriegelung konfrontiert waren. Die von den Behörden ergriffenen Maßnahmen waren drastisch. Angestellte waren gezwungen, auf unbestimmte Zeit von zu Hause aus zu arbeiten, und durften ihre Wohnungen nur unter sehr strengen Auflagen verlassen. Wenn jemand Symptome zeigte, wurde er sofort getestet und unter Quarantäne gestellt. Aber selbst mit diesen drakonischen Maßnahmen war es nicht sicher, dass die Gesundheitsbedrohung in Schach gehalten werden konnte. Die Epidemie breitete sich so schnell aus, dass die Menschen, auch wenn sie das Haus kaum verlassen konnten, Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus hatten. In der Zwischenzeit kam aus den Krankenhäusern die Nachricht, dass die Krankheit sehr aggressiv und schwer zu behandeln sei und das Gesundheitssystem überfordere.
In der Schweiz wussten wir seit unserer Jahrestagung Ende Januar 2020 von SARS-CoV-2, dem Virus, das COVID-19 verursacht. Es war ein Gesprächsthema in Diskussionen über die öffentliche Gesundheit, unter Teilnehmern aus oder mit größeren Betrieben in Asien. Aber bis zu diesem Telefonat hatte ich gehofft, dass der Ausbruch in seiner Dauer und geografischen Ausbreitung begrenzt sein würde, ähnlich wie die Coronaviren SARS und MERS unter Kontrolle gebracht worden waren. Ich hoffte, dass es nicht so viele meiner Kollegen, Freunde und Familienangehörigen persönlich betreffen würde.
Während des Telefongesprächs änderte sich mein Verständnis für die globale Bedrohung der öffentlichen Gesundheit. In den Tagen und Wochen danach stoppte ich die Arbeit an diesem Buch, und das Weltwirtschaftsforum ging in den Krisenmodus. Wir richteten eine spezielle Task Force ein, baten alle Mitarbeiter, von zu Hause aus zu arbeiten, und konzentrierten all unsere Bemühungen auf die Unterstützung der internationalen Notfallmaßnahmen. Es war keinen Moment zu früh. Eine Woche später erzwang das Virus einen Lockdown in weiten Teilen Europas, und ein paar Wochen später sah sich der Großteil der Welt einer ähnlichen Situation gegenüber, einschließlich der Vereinigten Staaten. In den folgenden Monaten starben mehrere Millionen Menschen oder wurden in Krankenhäuser eingeliefert, hunderte Millionen Menschen verloren ihre Arbeit oder ihr Einkommen, und unzählige Unternehmen und Regierungen gingen physisch oder virtuell bankrott.
Während ich dieses Vorwort im Herbst 2020 schreibe, ist der globale Ausnahmezustand, der durch die erste COVID-19-Welle ausgelöst wurde, weitgehend abgeklungen, aber schon versetzt eine neue Infektionswelle die Welt erneut in höchste Alarmbereitschaft. Länder auf der ganzen Welt haben das soziale und wirtschaftliche Leben vorsichtig wieder aufgenommen, jedoch verläuft die wirtschaftliche Erholung sehr ungleichmäßig. China gehörte zu den ersten großen Ländern, die ihre Lockdowns beendeten und die Geschäfte wieder öffneten, und es wird sogar ein Wachstum der Wirtschaft über das gesamte Jahr 2020 erwartet.
In Genf, New York, San Francisco und Tokio, unseren anderen ständigen Büros, wurden auch Teile des öffentlichen Lebens wieder aufgenommen, wenn auch auf viel fragilere Weise. Und überall auf der Welt gingen viele Menschenleben und Existenzen verloren; Milliarden wurden ausgegeben, um Menschen, Unternehmen und Regierungen über Wasser zu halten; bestehende soziale Spaltungen vertieften sich und neue entstanden.
Inzwischen haben wir uns von der anfänglichen Krise etwas entfernt, und viele von uns – mich eingeschlossen – sind zu der Erkenntnis gelangt, dass die Pandemie und ihre Auswirkungen eng mit Problemen verbunden sind, die wir bereits mit dem bestehenden globalen Wirtschaftssystem in Verbindung gebracht hatten. Diese Perspektive brachte mich zurück zu dem Gespräch, das ich im Februar 2020 am Tag jenes schicksalhaften Anrufs aus Peking geführt hatte. Viele der Analysen, an denen wir zuvor gearbeitet hatten, trafen nun mehr denn je zu. Sie werden in diesem Buch etwas darüber erfahren. Im Folgenden werde ich meine Beobachtungen zur zunehmenden Ungleichheit, zum verlangsamten Wachstum, zur stockenden Produktivität, zur unhaltbaren Verschuldung, zum immer schneller fortschreitenden Klimawandel, zur Verschärfung gesellschaftlicher Probleme und zur mangelnden globalen Zusammenarbeit im Hinblick auf einige der dringendsten Herausforderungen der Welt darlegen. Und diese Beobachtungen sind, wie Sie mir hoffentlich zustimmen werden, nach COVID-19 ebenso gültig wie vorher.
Eines hat sich jedoch in der Zwischenzeit zwischen Vorher und Nachher geändert: Ich stelle fest, dass es in der Bevölkerung, in der Wirtschaft und in der Regierung ein größeres Verständnis dafür gibt, dass man für eine bessere Welt zusammenarbeiten muss. Der Ansatz, dass der Wiederaufbau nach COVID anders sein müsse, wird weitgehend geteilt. Die plötzliche und allumfassende Wirkung von COVID-19 hat uns – viel mehr als die allmählichen Auswirkungen des Klimawandels oder die zunehmende Ungleichheit – vor Augen geführt, dass ein von egoistischen und kurzfristigen Interessen geleitetes Wirtschaftssystem nicht nachhaltig ist. Es ist unausgewogen, anfällig und erhöht die Wahrscheinlichkeit von gesellschaftlichen, ökologischen und gesundheitlichen Katastrophen. Wie COVID-19 zeigt, stellen solche Katastrophen eine unerträgliche Belastung für die öffentlichen Systeme dar.
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