Christine Wunnicke - Selig & Boggs

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Dass sich die sogenannte Traumfabrik von ­Hollywood in Kalifornien befindet, weil dort immer die Sonne scheint, mag man für einen Witz halten. Es ist aber die reine Wahrheit, und Christine Wunnicke hat ein ­wundervolles Stück Literatur darüber geschrieben. Es ­handelt von Mr. Selig, dem Filmunternehmer, der statt im langweiligen Kalifornien lieber im brausenden Chicago sein Glück machen will. Und von Mr. Boggs, seinem Spielleiter,
der jedes Mal, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schiebt, den Betrieb einstellen muss und deshalb nichts sehnlicher wünscht, als in den sonnigen Westen zu ziehen. Das gute Ende ist bekannt, aber wie es dazu kam, wurde noch nie so schön erzählt.

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Christine Wunnicke

Selig & Boggs

DIE ERFINDUNG VON HOLLYWOOD

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1907 hatte Chicago zwei Millionen Einwohner und 116 Lichtspielhäuser. An 150 Tagen fiel Regen oder Schnee.

Die Bevölkerungszahl von Hollywood war unlängst auf 800 gewachsen. Die Trambahn nach Los Angeles brauchte zwei Stunden. Es gab keine Lichtspiele und es regnete nie.

Inhalt

Selig & Boggs

Wenn wir den Zuschauer in den wilden Dschungel entführen oder in die goldene Pionierzeit des amerikanischen Westens, stützen wir uns stets auf wissenschaftliche Erkenntnisse und historische Forschung. Gewiss wächst der Dschungel in unseren Filmateliers und ein wenig dramatischer Schmiss tritt schon auch hinzu, aber es ist doch alles korrekt. Nicht verbürgt vielleicht, aber immer korrekt. Dafür steht die Selig Polyscope mit ihrem guten Namen ein .

WILLIAM N. SELIGin »Commercial Bioscope News and Gazette«, 1908

Es ist aktenkundig, dass es in Independence, Missouri, am 6. Mai 1842, einem Freitag, in Sturzbächen regnete, weshalb die Familie Boggs schon zur Abendbrotzeit die Lampen hatte anzünden müssen, weil man sonst nicht die Hand vor den Augen sah. Sogar der Hund war hereingekommen. Unter der Veranda stand das Wasser.

Senator Lilburn W. Boggs, seine Frau Panthea und acht oder neun ihrer Kinder verzehrten, nach dem Segen, Pfannkuchen mit Kompott. Sie saßen still um den Tisch auf ihren festgelegten Plätzen und aßen sachlich, hungrig, gesittet, aber nicht vornehm; die Kinder, selbst die kleinsten, ahmten mit großem Erfolg den Rhythmus von Löffeln, Kauen und Schlucken der Eltern nach. Bald war die Mahlzeit beendet und Pantheas Mädchen räumte ab. In der Tür trat sie unbemerkt nach dem Hund.

Das Haus, ein gediegenes und bescheidenes Blockhaus, war etwas auswärts gelegen und stand vereinzelt, mitten auf dem verwaisten Bauplatz für die Stadt Zion der Heiligen der Letzten Tage. Dass die Familie Boggs ihr Heim hier errichtet hatte, kam manchem ein wenig absichtlich vor: In seiner Amtszeit als Staatsgouverneur hatte Lilburn Boggs vor nicht allzu langer Zeit dafür Sorge getragen, dass dieses Zion ein mormonisches Hirngespinst blieb, statt in Jackson County die Welt und Gott zu beleidigen. Er hatte, so der Wortlaut, verfügt und erlassen, dass alle Mormonen auszurotten oder andernfalls aus dem Staate Missouri zu vertreiben seien, da ihre Greuel jeder Beschreibung spotten . Für dieses Dekret ist der sechste Gouverneur von Missouri noch heute ein wenig berühmt.

So waren sie denn fort, die Mormonen, und es hatte sich angeboten, auf ihrem Flurstück zu bauen. Denn die Stadt Independence, fand Mr. Boggs, war ein Dreckskaff ohne Vernunft und Gesetz, in dem man Töchter zumindest nicht aufziehen mochte; man lebte im Grünen viel besser.

Nach dem Essen verfügte sich der Senator in die Wohnstube, um in seinem Sessel die Zeitung zu lesen. Eine kleine Tochter, sechs Jahre alt, schaukelte den Säugling in der Wiege. Die Fensterscheiben waren schwarz, man hatte die Vorhänge noch nicht geschlossen, das Kind bestaunte die dicken Regentropfen, die erst festsaßen wie Perlen und dann langsam das Glas hinabflossen und sich einander näherten und sich vereinten und zusammen weiterflossen, erst dick, dann dünner, im Lichtschein silbern, im Schatten weiß. Die Boggses, Vater und Tochter, spiegelten sich fahl in den Scheiben, graue Gesichter, graues Haar. Man konnte nicht sehen, was draußen war. Hinter den Fenstern kam ein zweites Zimmer, ein Zimmer ohne Farben, ein Geisterzimmer oder einfach ein Mumpitz, wie Vater das nannte, der immer recht hatte und fürs Schauerliche nichts übrig. Vielleicht überlegte das Mädchen, dessen Name nicht aktenkundig ist, ob sie den Säugling aus der Wiege nehmen und zum Glas halten sollte, ob er sich wohl ebenso grau spiegelte wie Vater und sie; vielleicht fröstelte sie; vielleicht formte sie mit den Lippen einen Schutzengelvers; vielleicht verfing sich ihre Zopfquaste bei jedem Wippen der Wiege für einen Augenblick in der Armrüsche des Kittelkleids.

Senator Boggs hatte sich über das Politische bereits vor dem Abendbrot erzürnt und widmete sich nun den Kleinanzeigen. Jemand versteigerte Möbel, aus Mahagoni und geriegeltem Ahorn, ein Pianoforte, ein Britannia-Teeservice. Jemand musste umständehalber einen Freiheitsbaum verkaufen, zwanzig Fuß hoch, samt Spitze, Kugel und Wimpel. Jemand suchte einen aufgeweckten Knaben für die Brausetheke einer Eisdiele. Das war alles weit weg, in New York, bei den verzärtelten Yankees. Da wollte Mr. Boggs nicht sein. Keine Eisdiele in Missouri. Kein verfluchter Freiheitsbaum im Garten von Senator Boggs. Wir brauchen endlich unsere eigenen Zeitungen, dachte Mr. Boggs. Er erzürnte sich schon wieder. Sein Daumen glitt über die Kleinanzeigen, er rieb sie, radierte sie aus, Zeitungen hier für uns im Süden ohne Mumpitz und Humbug, Eisdiele, pah, Vergnügungssucht, murrte Senator Boggs.

Ein schwarzes Fenster, Tropfen in Silber und Weiß. Das Licht blakte. Vielleicht tickte eine Uhr. Das Mädchen an der Wiege bückte sich, um den Säugling neu festzustecken, denn es war kühl geworden. Dann schoss jemand vom Garten her das Fenster entzwei.

An dieser Stelle musste Francis W. Boggs die Aufnahme abbrechen. Er schrie Stopp und alles hielt an. Das Kind an der Wiege, der Mann im Sessel, der Mormonenscherge vor dem Fenster mit dem großen deutschen Schrotrevolver im Anschlag und der Gehilfe in Schwarz, der die Fensterscheibe hielt, um sie im rechten Moment fallen zu lassen, damit es Scherben gäbe; alle erstarrten geübt und standen artig wie Puppen, denn wieder war eine Wolke vor die Sonne gezogen über dem Glasdach der Selig Polyscope Lichtspielateliers, und wieder war es zu dunkel zum Drehen, und wieder wollte Mr. Boggs einen Schnitt sparen, an einem typisch durchwachsenen Herbsttag in Chicago im Jahr 1907.

Nur der Kameraoperator kurbelte weiter, traumverloren, wie ein Leierkastenmann; kein Meister seines Gewerbes. Mr. Boggs knuffte ihn. Da hielt auch er an und arretierte die Kurbel. Er begann wieder Come, gentle night zu summen und nahm Schnupftabak. Zum dritten Mal in einer Stunde hatte sich die Sonne verfinstert. Der Spielleiter Boggs fühlte die ersten Vorboten eines Migräneanfalls.

Er legte den Kopf in den Nacken. Die Wolke sah immer gleich aus. Sie saß auf dem Glasdach wie ein Tier, wie ein Büffel oder Bär, wie ein indianischer Fluch. Wenn er Migräne bekam, behelligten Mr. Boggs poetische Bilder.

Die Wolke saß genau über seiner Szene. Drüben bei Mr. Golden, der mit Die Rache des Hypnotiseurs in den letzten Zügen lag, war es noch hell genug. Ein Goldkind, Mr. Golden. Gestern war er wieder aus Colonel Seligs Büro gekommen, in das der Neuling Boggs nie hinein durfte.

Der Mormonenscherge mit seiner Kanone war in die Hocke gegangen, das tat er immer, wenn er stillhalten sollte, Kreuzschmerzen, Kreislauf, den will ich nie wieder sehen, dachte Boggs, ich streiche ihn eigenhändig von der Liste, und von der heutigen Gehaltsliste auch. Die Migräne begann sein Gesichtsfeld zu verengen wie eine Lochblende. Heiße Stirnbäder hatte der Arzt empfohlen, Ammoniak, irgendetwas mit Senf, und dass man bei der Stuhlentleerung nie drängen solle, und dabei hatte er dauernd durchblicken lassen, dass das im Normalfall nur Weiber haben.

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