Christine Wunnicke - Katie

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Vielleicht liegt es am Nebel. Davon jedenfalls gibt es in London auch um 1870 herum genug, und wer weiß, vielleicht trübt er der Stadt ­kollektiv die Sinne. Kaum einer, der nicht dem Medium seiner Wahl vertraut, um in schummrigen ­Séancen mit dem Jenseits zu ­parlieren. ­Florence Cook ist das It-Girl der Branche – streng verschnürt im Schrank bringt sie die ­aufregendste aller Erscheinungen zutage: Katie, 200 Jahre jung und in gleißendes Weiß gewandet, früher Piratentochter, heute eine unruhige Seele auf der Suche nach Erlösung. Oder…? Ein Fall für Sir William Crookes, der Florence (und Katie) nach den Regeln der da­maligen Kunst unter die Lupe nimmt – nur um am Ende erschöpft zu konstatieren, dass die Wissenschaft im Grunde auch nur ein Spuk ist. Eine herrlich übersinnliche Geschichte, und das Beste: Es ist alles wahr. Wirklich.

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CHRISTINE WUNNICKE ROMAN - фото 1

CHRISTINE WUNNICKE

ROMAN Inhalt Kapitel I Kapitel II Kapitel III Kapitel IV Kapitel V Kapitel - фото 2

ROMAN

Inhalt Kapitel I Kapitel II Kapitel III Kapitel IV Kapitel V Kapitel VI - фото 3

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Aus dem strahlenden Äther komme ich ,

aus dem Reich mikroskopischer Dinge, wo Moleküle sich ewiglich in gierigem Beben umschlingen. Atomkollision – projiziert aufs Tapet manch Spektrum leuchtend erschien, das Doppel-D und Magnesium-b und des Thalliums lebendes Grün .

James Clerk Maxwell

I

»Herausgeber der Chemical News «, wiederholte Crookes. »Crookes. William Crookes. Crookes!«

Professor Faraday betrachtete den Sonnenstrahl, der durch das Sprossenfenster auf den Teppich fiel. Er streifte sein linkes Bein und den Rollstuhl. Nicht nur Räder und Handläufe, sondern auch der gesamte Unterbau des Rollstuhls war aus Eisen geschmiedet, stellte Crookes fest, als drohe Faraday fortzuschweben, wenn man ihn nicht gut beschwerte. Professor Faraday betrachtete die Sonnenstäubchen, die neben ihm tanzten. Sein flockiges weißes Haar, das sich mit einem dünnen Backenbart verband, sträubte sich über den Ohren. Der Blick seiner blassgrauen, blanken Augen war ratlos.

»Crookes«, wiederholte Crookes. »Der mit dem Thallium. Entdecker desselben. Lichtbildnerei. Observatorium von Greenwich. Metallurgie. Der mit der Karbolsäure und der Rinderpest. William Crookes. Sie kennen mich, Sir!«

Mrs. Faraday hatte ihm nahegelegt, in knappen Sätzen mit ihrem Mann zu sprechen. Mit keiner Bewegung, keinem Blick, keinem Geräusch, und sei es auch nur einem Seufzen, würdigte Professor Faraday seine Anwesenheit. Crookes wünschte, Mrs. Faraday käme aus dem Garten zurück und spräche mit ihm. Er betrachtete, Faradays Blick folgend, die Sonnenstäubchen. Man müsste öfter aufs Land fahren, dachte Crookes. Die Kinder und Nelly aufs Land bringen, damit sie dort gut gediehen. Daheim in Camden Town drang die Sonne nie durch den Nebel. Professor Faraday hatte die Sonne gewiss verdient, nach all seinen Diensten für die Krone und für die ganze Welt. Die Königin war gleich nebenan. Man erzählte, dass Faraday zuweilen mit Queen Victoria lunche und sie für alles zu begeistern wisse. Eine kleine Speichelblase bildete sich zwischen Faradays Lippen, zitterte und zerstob.

»Sir«, sagte William Crookes, »ich habe letzthin probiert und immer wieder probiert, Spektrallinien magnetisch zu beeinflussen, zu spalten, zu spreizen, zu verändern, in irgendeiner Weise darauf einzuwirken. Ich habe Stab- und Hufeisenmagneten probiert, zusammengesetzte Stäbe, zusammengesetzte Hufeisen und Elektromagneten verschiedener Größe und Form mit verschiedenen Kernen und Spulen und verschiedenen galvanischen Apparaten, und ich habe Natrium, Lithium, Kalium, Strontium, Calcium, Barium, Magnesium verbrannt und Thallium auch, gewiss, ich habe Legierungen aller Arten bei verschiedener Temperatur verbrannt und alle Magneten auf alle Flammen gerichtet und alles spektroskopiert, bis ich schier erblindet bin, und nichts ist geschehen. Selbst das große Hufeisen der Royal Society hat gar nichts ausgerichtet. Mir kam zu Ohren, dass Sie es auch probierten. Ihnen ist es gelungen, nicht wahr?« Das kam jämmerlich heraus.

Die Sonne war ein wenig gewandert. Sie streifte jetzt Faradays linke Bartkotelette, die silbrig glänzte.

»Es läge mir sehr am Herzen«, setzte Crookes hinzu.

Auf dem kleinen Tabletttisch neben dem Rollstuhl lag ein frommes Buch aufgeschlagen und dabei stand ein schlichtes Milchkännchen mit zwei Henkeln, das Crookes schon eine Weile verwirrte, vielleicht war es ein Schnabelbecher für Kranke. Faraday las das Buch nicht und trank auch nicht aus dem Kännchen, und er erkannte Crookes nicht und verstand ihn nicht und vielleicht hörte er ihn nicht einmal, und mit der Königin lunchte er gewiss längst nicht mehr.

»Ich weiß nicht«, sagte Crookes, »warum es mir so am Herzen läge. Warum haben Sie es probiert?«

Faradays Finger waren ein wenig gespreizt und die Handgelenke stark geknickt. Er sah aus, als ob er Klavier spielen wolle, auf dem eisernen Rollstuhl und auf seinem dünnen Bein. Er sah aus, als ob er schon im Himmel wäre. William Crookes war die Religion nicht geheuer, nie geheuer gewesen, bald brachte sie ihn auf, bald dauerte sie ihn, meistens brachte sie ihn auf. Mit Nelly das Thema vermeiden. Mit den Kindern trotzdem beten. Welch schwachsinniger Himmel, worin Faraday sich befand.

»Der arme Faraday«, sagte Crookes. Dann wartete er lange, fast fünf Minuten, bis er aufstand, um Mrs. Faraday zu suchen, und dann heim nach Camden Town zu fahren. Aber er setzte sich wieder hin.

»Sie waren vierundzwanzig Jahre alt, Faraday, und eigentlich fast noch ein Buchbinderlehrling«, sagte Crookes, »als Sie vor der Philosophical Society einen Vortrag über sogenannte strahlende Materie hielten, um den Sie niemand gebeten hatte. Es kam auch nichts Rechtes dabei heraus. Sie erzählten, dass die Materie in vier Zuständen auftrete, nicht in den altbekannten dreien, und zwar sei sie fest, flüssig, gasförmig oder strahlend, und dazwischen riefen Sie ›hypothetisch, hypothetisch‹, und sie sagten nicht, was da strahlte und wie, und Sie führten uns auch nichts Strahlendes vor, sondern ließen uns hängen mit Analogien und Allegorien und Ihrem milden Charme.«

Crookes schlug das fromme Buch zu und stellte das ärgerliche Kännchen darauf.

»Ich war damals noch nicht geboren«, sagte Crookes, »doch jemand hat alles protokolliert und in den Druck gegeben, was Sie damals erzählten. Das Strahlende, so sagten Sie, sei vom Gasigen ebenso weit entfernt wie das Gasige vom Flüssigen und stelle gleichsam eine immer weitere Verdünnung des elastischen Fluidums dar, eine Verfeinerung, Veredelung des aufgeladenen Gases …«

William Crookes stöhnte und griff sich in den Bart.

»Ich habe wenig Zeit«, fuhr er fort, »und wenn Sie nicht dem Altersblödsinn verfallen wären, wüssten Sie, wie sehr ich beschäftigt bin – mit dem Hüttenwesen, der Rinderpest, den Gemeinheiten des Thalliums, das man mir abspenstig zu machen versucht, mit Nitroglyzerin und Fotografie und der Aufarbeitung von Müll und Patenten und Phosphor und Steinkohlenteer und sechs Kindern zuhause – ›es wächst das Gras und dennoch verhungert der Gaul‹, wie man sagt … Ich habe keine Zeit, Magnete auf Spektrallinien zu richten, und für strahlende Materie habe ich erst recht keine Zeit!«

Die Sonne fiel jetzt direkt in Faradays Gesicht. Er kniff nicht die Augen zusammen, doch hatte er begonnen, ein wenig zu kauen, was auch immer er da kauen mochte; es sah qualvoll aus. Crookes sah ihm eine Weile zu. Er ertappte sich dabei, wie er prüfte, ob Faradays Person dem Licht widerstand. Ob er, wie jeder andere Festkörper, einen Schatten warf.

»Mr. Maxwell spintisiert seit jüngstem ganz haltlos über den lichttragenden Äther«, sagte Crookes zu den Sonnenstäubchen, »und ich sagte einmal in Gesellschaft, ich verstünde ihn nicht, weil er spreche wie ein schottischer Viehhirt, doch verstehe ich ihn deshalb nicht, weil er alles berechnet und ich nicht rechnen kann.«

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