Christine Wunnicke
Novelle
Kapitel 1 1 »Ich habe seit geraumer Zeit eine offene Frage«, sagte Seki Keijiro zu seinem Schwiegervater. »Zwei Tage vor Frostbeginn fährt sie mir immer kalt in die Knochen.« Sein Enkelsohn kletterte an ihm hoch. Keijiro hielt sich dessen Haarpinsel behutsam von der Nase fern. »Du und deine Knochen.« Der Schwiegervater verdrehte die Augen. Es gab nie Frost am Tag des Frostbeginns, in der sonnigen Provinz Bichuu. »Ich habe seit genau einundvierzig Jahren eine Rechnung offen«, sagte Keijiro. Der Enkelsohn rutschte auf seinen Schoß hinunter und krabbelte über ein Knie zu Boden. Dann begann er wieder zu klettern. Keijiro wischte sich den Haarpinsel gemächlich aus dem linken Auge. »Frage oder Rechnung?«, erkundigte sich der Schwiegervater. Jetzt hatte der Enkelsohn die Zehen in Keijiros Gürtel gehakt und hielt sich an dessen Ohr fest. Keijiro schob ihn auf seine Schulter hoch, ließ ihn den Rücken hinunterrutschen, griff hinter sich und fing ihn, im Kopfstand in der hohlen Hand. Er drehte ihn um und setzte ihn auf seinen Schoß und zwirbelte den Haarpinsel besonnen zwischen Daumen und Zeigefinger. »Nun«, sagte Seki Keijiro. Der Schwiegervater entschuldigte sich und ging hinüber in den Westflügel. Es war unerquicklich, sich mit Keijiro zu unterhalten, zwei Tage vor Frostbeginn, wenn ihm die offenen Dinge seines Lebens in die Knochen fuhren.
Kapitel 2 2 Der junge Mann, der mit dem Schiffsaffen einträchtig in der Takelage der Middelburg hing und dort ein Lied sang, ein französisches, wie es schien, hatte flachsblondes Haar, blaue Augen, rosige Wangen, ein meistenteils luftiges Temperament, und es gebrach ihm an jeglicher Tauglichkeit außer der einen: Sprachen zu lernen wie ein Papagei, weshalb man ihn, statt seines Taufnamens Abel, oft Babel nannte oder auch Babbel, wenn er allzu arg schnatterte. Mynheer van Rheenen, ein Gesellschafter der Ostindien-Kompanie, hatte seinen zweitjüngsten Sohn für eine Handvoll Aktien hergegeben; falls man ihn brauchen konnte als Dolmetsch. Er war gebürtig aus Rotterdam. Er hatte die Straße von Malakka durchquert und segelte gen Batavia. Er sprach Malaiisch und sogar Halifurisch, und niemand bedurfte seiner Künste, da doch alle Welt Portugiesisch konnte. Nur einmal hatte er bislang dolmetschen dürfen, in einem Strandbordell aus Schilf und trockenem Tang auf der Muskatinsel Run, und dort wäre man mit Handzeichen doch gewiss ebenso weit gekommen. Er löste den Affen vom Seil und versuchte ihn auf den Bootsmann zu werfen, der unten über Deck ging. Der Affe blieb auf halbem Weg hängen. Abel sang weiter von Schäferinnen, jetzt auf Portugiesisch, und starrte in die Ferne. Sein Leben lag vor ihm wie der Ozean, unkartographiert, endlos und nicht geradehin von Sinn beseelt. Er hängte sich mit den Kniekehlen ins Seil. Die Middelburg fuhr nun im Himmel, vom Meer beschirmt, alles blau. Abel schaukelte. Wenn er nun fiele, überlegte er, ob ihn wohl einer finge?
Kapitel 3 3 Als der Monat des Frostes verstrichen war und der Monat der Eiligen Priester anbrach, fiel Schnee in Bichuu. Zu jedermanns größtem Erstaunen ließ Seki Keijiro eine Zielscheibe in seinen Vorhof tragen und schoss mit dem Kurzbogen darauf, im Sitzen, vom Haus aus, durch die offene Tür und quer über die Veranda. Er sah dem Schnee gern zu, aber er stand nicht gern darin. Manche sagten, er stehe ohnehin nicht gern. Manche behaupteten, er habe seit der Belagerung von Osaka den Hintern nicht mehr gehoben, aus reiner Faulheit und weil er, dank seiner günstigen Verbindung mit der Tochter eines Brudersohns des ehrenfesten Itakura Shigemune, nicht musste. Sechsundzwanzig Jahre waren verstrichen, seit die goldene Burg brannte. Herr Seki war in der Tat der faulste Mensch der Welt. Er ließ fünf Pfeile von der Sehne, dann schickte er einen Diener sie holen. Sie steckten in einem ordentlichen Kreis in der Scheibe. Er schoss einen sechsten ab, in die Mitte, knapp am Diener vorbei. Der starb fast vor Schreck. »Oh oh«, machte Keijiro. Der halbe Haushalt lief zusammen. Es war ein seltenes Ereignis, wenn Herr Seki etwas tat, und ein großes Ereignis, wenn er etwas mit einer Waffe tat. Bevor ihn der Dämon der weltgrößten Faulheit besessen hatte, war er ein berühmter Mann gewesen, schon vor Osaka, und danach erst recht. Immer noch, wenn auch inzwischen recht selten, kamen junge Männer von weit her, mit langen Briefen und schönen Worten, die mit ihm kämpfen wollten, um ihre Kunst zu verbessern. Er ließ sie nicht über die Schwelle. Vorsorglich war beim Pförtner ein Papier hinterlegt für solche Fälle, mit einem »Nein danke« und Seki Keijiros schwungvoller Signatur. Und dazu gab es ein hübsches Stück Band. Wenn er nicht schlief oder aß oder trank – gerne reichlich – oder nachdachte oder mit seinem Enkel spielte oder seiner Frau zuhörte oder mit dem Schwiegervater plauderte, webte Keijiro Bänder auf einem kleinen Webstuhl, bunte Bänder aus Wolle oder Seide. Wenn sich die Muster einst wiederholten, sagte er, wolle er sich auf einen Berg tragen lassen und sterben. Das sei aber noch lange hin. Der halbe Haushalt war zusammengelaufen. Sofort ließ Keijiro Bogen und Pfeile und Scheibe forträumen. Er setzte sich in die offene Tür und betrachtete den Schnee.
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Kapitel 29
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Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
»Ich habe seit geraumer Zeit eine offene Frage«, sagte Seki Keijiro zu seinem Schwiegervater. »Zwei Tage vor Frostbeginn fährt sie mir immer kalt in die Knochen.«
Sein Enkelsohn kletterte an ihm hoch. Keijiro hielt sich dessen Haarpinsel behutsam von der Nase fern.
»Du und deine Knochen.« Der Schwiegervater verdrehte die Augen. Es gab nie Frost am Tag des Frostbeginns, in der sonnigen Provinz Bichuu.
»Ich habe seit genau einundvierzig Jahren eine Rechnung offen«, sagte Keijiro.
Der Enkelsohn rutschte auf seinen Schoß hinunter und krabbelte über ein Knie zu Boden. Dann begann er wieder zu klettern. Keijiro wischte sich den Haarpinsel gemächlich aus dem linken Auge.
»Frage oder Rechnung?«, erkundigte sich der Schwiegervater.
Jetzt hatte der Enkelsohn die Zehen in Keijiros Gürtel gehakt und hielt sich an dessen Ohr fest. Keijiro schob ihn auf seine Schulter hoch, ließ ihn den Rücken hinunterrutschen, griff hinter sich und fing ihn, im Kopfstand in der hohlen Hand. Er drehte ihn um und setzte ihn auf seinen Schoß und zwirbelte den Haarpinsel besonnen zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Nun«, sagte Seki Keijiro.
Der Schwiegervater entschuldigte sich und ging hinüber in den Westflügel. Es war unerquicklich, sich mit Keijiro zu unterhalten, zwei Tage vor Frostbeginn, wenn ihm die offenen Dinge seines Lebens in die Knochen fuhren.
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