Entgegen jeder Vernunft und ärztlichen Prognose schlug Lilburn Boggs in Independence nach drei Tagen Koma die Augen auf und verlangte nach Frühstück, nach der Bibel, nach Frau, Kindern und der Korrespondenz des Senats. Dann sagte er »Ich will nach Kalifornien«. Man schob das auf die zwei verbliebenen Stück Grobschrot in seinem Gehirn.
»Man sollte die gesamte Polyscope nach Kalifornien umsiedeln«, sagte Francis Boggs zu seinem Chef William Selig, »denn in Chicago ist das Wetter nicht gut.«
»Was für eine schöne Idee.« Colonel Selig lächelte den Jungspielleiter an, von Sessel zu Stuhl, über den großen Schreibtisch hinweg. Es bestand kein Zweifel, dass Mr. Selig nicht zuhörte, dass er einen Umzug keines Gedankens würdigte, dass er an die nächsten siebzig Lichtspiele der Polyscope dachte oder an die neue Auflage des Multifunktionsprojektors oder auch nur an den kleinen Schimpansen, mit dem er zuweilen in den Außenkulissen ein Zigarettchen rauchte; dennoch hob sich Boggs’ Laune und Boggs’ Migräne verflog, weil der Colonel so ein netter Mensch war.
»Mir kam auch zu Ohren, Sie wollten den Kameraoperator in ein Wägelchen stecken und in der Kulisse umherschieben«, sagte Selig, »und dass Sie Ihr tägliches Lichtspiel nicht fertigstellten?«
»Wagen«, verwehrte sich Boggs. Er wartete darauf, hoffte darauf, entlassen zu werden. Weshalb sonst hatte ihn Selig gerufen? Seit er den Geist seines Großvaters gesehen hatte, träumte Boggs von Kalifornien. Er hatte einen ganzen Abend vor der Scheibe des Gewächshauses der botanischen Gesellschaft von Illinois verbracht und die Magnolienbäume angeseufzt, die man durch das beschlagene Glas gar nicht gut sehen konnte und die nicht einmal blühten; so schlimm war sein Heimweh. Francis Boggs wollte nach Kalifornien, zurück zum Theater, und wenn May nicht mitwollte, so würden sie sich halt scheiden lassen, und Francis würde eine neue Primadonna heiraten oder die Tochter eines Direktors.
»Jetzt phantasieren Sie schon wieder, Boggs«, stellte Selig fest. Er machte eine kleine kreisende Handbewegung, als kurble oder quirle er etwas knapp über der Schreibtischplatte, und dann zeichnete er eine sanfte Wellenlinie in die Luft, um das Quirlen ein wenig abzumildern.
»Wir müssen früher oder später mit der gesamten Firma nach Kalifornien umziehen«, sagte Boggs.
»Ich mag Phantasten.« Selig lächelte. »Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Lichtspiele rechtzeitig fertig bekommen, und erschrecken Sie nicht Ihre Operatoren.«
»Das Wetter in Chicago ist eine himmelschreiende, teuflische Katastrophe«, sagte Boggs.
Selig lächelte noch immer und hörte längst nicht mehr zu. Boggs merkte, er wollte bei Selig bleiben, weil Colonel Selig so ein netter Mensch war.
ACHTUNG, AUFNAHME. – Wenn der Spielleiter zu Beginn einer Szene das Kommando gibt, schauen Sie nicht zur Kamera, ob sie auch läuft. Dafür wird von anderer Seite Sorge getragen .
KÄMPFEN. – Vermeiden Sie unnötiges Umsichschlagen und Verrenken des Körpers. Werden Sie beispielsweise in einem Handgemenge überwältigt, so krümmen und winden Sie sich nicht über Gebühr, sofern Sie nicht einen Tollhäusler spielen. Ebendieses gilt auch für Ihren Tod. Nicht fuchteln! Lassen Sie gesunden Menschenverstand walten .
BILD. – Bemühen Sie sich, dieses nicht zu verlassen. Merken Sie sich den Fokus der Kamera, was mit einiger Übung ein Leichtes ist, und agieren Sie ausschließlich in diesem Bereich .
SCHMINKE UND KOSTÜM. – Sind Sie bestellt, um einen Goldgräber zu spielen, erscheinen Sie nicht in Schnürstiefeln und Hosen mit Seitentaschen. Ein armes Mädchen vom Land trägt nicht Seidenstrümpfe und französische Absätze. Röten Sie Ihre Lippen und Wangen nur wenig, denn Dunkelrot wird schwarz in der Fotografie. Tupfen Sie niemals Rouge auf Nase und Stirn. Dies führt zu ganz abscheulichen Ergebnissen .
ÄRMEL. – Krempeln Sie nicht ständig Ihre Ärmel hoch. Wenn Sie Tennis spielen oder auf der Strandpromenade mit einem Fräulein schäkern, dürfen Sie Ihre männliche Schönheit nach Herzenslust ausstellen, aber merken Sie auf: Cowboys und Fallensteller schätzten den Hemdsärmel aufgrund seines ursprünglichen Verwendungszwecks!
FLUCHEN. – Es befinden sich Frauen und Kinder im Atelier! Und halten Sie sich besonders während der Aufnahme zurück. Tausende von Taubstummen besuchen die Lichtspielhäuser und lesen Ihre Lippen .
ROLLEN. – Seien Sie niemals pikiert über Ihre Rolle. Der Spielleiter weiß genau, wofür Sie gut sind. Verdrießlichkeiten erschweren sein Leben .
Merkblatt für Darsteller der Selig Polyscope Company, Chicago 1910
Um das Jahr 1885, in einem Sanatorium in Colfax, Kalifornien, das er hausmeisterlich betreute, stellte William Nicolas Selig fest, dass sein Geschick, knifflige Dinge zu reparieren oder auszubessern, sich nicht nur auf Gegenstände erstreckte, etwa Wasserhähne und die zarten Scharniere von Liegestühlen, sondern auch auf das menschliche Gemüt.
Es verblüffte ihn immer wieder. Er war noch keine zwanzig, er hatte nichts Priesterliches oder gar Kurärztliches an sich, er war ein großer, breiter, blonder, schnauzbärtiger Welpe von einem deutschen Polsterergesellen aus der deutschesten Ecke von Chicago-Nord, der nicht einmal besonders gerne redete; dennoch wusste er, was Menschen, besonders von Kummer geplagte, brauchten, und zwar fast immer.
William Selig zog Vorhänge auf, wenn jemand Licht wollte, und Vorhänge zu, wenn sich einer nach Dunkelheit sehnte. Er brachte Erfrischungen, auch ungewöhnliche, etwa kalten Kaffee, wenn jemand ein Gelüst danach hatte, und trug unberührte Heilwassergläser davon, sobald sich ein Gast von ihrem Vorhandensein bedrängt fühlte. Bisweilen musste er still um eine Ecke biegen, wenn er ein Bedürfnis erahnte, das er nicht erfüllen konnte oder wollte. Einem bleichen Jüngling aus Boston reparierte er die Taschenuhr, nur um sie dann unauffällig ganz zu zerstören, weil er ahnte, dass sie ein belastendes Andenken war, etwa an einen bösen Vater oder Onkel. Der Jüngling aus Boston gewann Farbe und Laune zurück und lief dem Hausmeister tagelang wie ein Hündchen hinterher. Einmal trug Selig eine Klapperschlange, statt sie wie geplant zu erschlagen, durch das halbe Haus und den Garten, um sie einer Dame mit Ekzemen zu zeigen, von der er so grundlos wie richtig annahm, dass eine Klapperschlange sie in diesem bestimmten Augenblick entzücken würde. All dies tat er ohne Wunsch nach Lob oder Belohnung, auch ohne viel altruistischen Nachdruck, gleichsam wie ein wissenschaftliches Experiment. Wie und warum es funktionierte, hatte er auch nach einem Jahr in Colfax noch nicht herausbekommen.
Der junge Selig war nach Kalifornien gereist, um dort einen Husten, vielleicht einen schwindsüchtigen, auszukurieren, und verband nun das Nützliche mit dem Nützlicheren. Er hausmeisterte geduldig, für wenig Geld, mit wenigen Worten und scharfem Blick auf die Menschheit. Eine nie recht eingestandene Abneigung gegen Gurtspanner und Polsterzwecken mag ebenfalls eine Rolle gespielt haben, als Selig Chicago verließ, oder auch die Vermutung, dass Gott etwas Dramatisches mit ihm vorhabe, das gewiss mit einer Reise beginnen müsse.
Kalifornien an sich war ihm nicht sonderlich lieb. Die ewige Sonne, das ewig Paradiesische, und dann die aufgelassenen Goldminen, die das Land so zerfurcht hatten, dass man kaum mehr gerade Häuser darauf bauen konnte, all das widerstrebte ihm. Ein Sanatorium indes, selbst ein rudimentäres wie jenes in Colfax, was im Grund nichts anderes war als eine zum Städtchen angeschwollene Baustelle der Central Pacific Railroad, war der ideale Ort für William Seligs Menschenversuche.
Als praktischer Mann wollte er nun lernen, den Selig-Effekt zu bündeln: Wie mehrere zugleich zu beglücken seien mit nur einer einzigen Kraftanstrengung. Er versuchte vieles. Nichts befriedigte ihn. Immer gab es Ausreißer, immer setzte sich dieser oder jener gegen den allgemeinen Beglückungsversuch zur Wehr, immer wieder trübte vereinzelter Verdruss das allgemeine Vergnügen. Erst im Frühling 1887 fand William Selig sein erstes Allheilmittel, das ihn in seiner Unseriosität ein wenig entsetzte: die kleine Salonmagie.
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