Veronika R. Meyer
Stromlos
Veronika R. Meyer
Stromlos
Ein Wimmelbild des Schreckens
orte Verlag
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Der grosse Regen
Ein Gewimmel von Regenschirmen da unten. Kaum Menschen zu erkennen, bloss das bunte, ständig wechselnde Ballett ihrer Schirme. Die Musik dazu das ununterbrochene Rauschen des Regens. Julia Kehl blickte aus dem Fenster ihrer Alterswohnung am Spisertor in St. Gallen. Sie war über neunzig, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass es früher einmal so lange andauernd geregnet hätte. Sie wusste, dass Erinnerungen täuschen können, aber hatte man je dergleichen gesehen? Immerhin musste sie sich heute nicht ins Schirmballett stürzen. Selber kochen war nicht mehr nötig, was sie genoss, und wenn sie sonst etwas brauchte, fand sie das meiste im Supermarkt, der sich im gleichen Gebäude befand.
Julia trat vom Fenster zurück, fuhr mit dem Lift ins Restaurantgeschoss hinunter und sinnierte über den Regen nach. An ihrem Frühstückstisch wurde Weltuntergangsstimmung zelebriert: «Der Bodensee wird Rorschach schlucken, wenn das nicht bald aufhört.» – «Und das Bähnli nach St. Georgen hinauf wird nicht mehr fahren können, die Steinach bringt zu viel Wasser.» – «Man hätte die geplante Rhein-Sanierung, dieses Rhesi-Projekt oder wie, schon längst bauen sollen. Gestern Abend sagten sie im Fernsehen, wenn das mit dem Regen so weiter gehe, werde der Rhein ins Seeztal hinüberschwappen.» Womit immerhin Rorschach gerettet wäre, dachte Julia. Die Diskussion verstummte ziemlich schnell, als Gipfeli und Brötchen mit reichhaltigen Beilagen serviert wurden und kräftiger Kaffeeduft den Nasen schmeichelte.
Der Himmel selbst schien flüssig geworden zu sein, seit Tagen schon. Konnte man diese Flut überhaupt Regen nennen? Waren das nicht Wasserstürze, fortwährend kippende Löschtanks irgendwo da oben, zerberstende Wolken? Zeitweise sah man durch die Wasservorhänge kaum zum Berner Münster hinüber. Dann und wann beruhigten sich die Elemente zu Nieselregen, um nach einer halben Stunde umso kräftiger Stadt und Land ungeniert begiessen zu können.
Noch vor einer Woche hatte man unter grosser Hitze gelitten; es war erst Mitte Mai, aber die Dreissig-Grad-Grenze war bereits mehrmals überschritten worden. Die Bademeister in den Freibädern freute dies, die Bierfabrikanten auch. Erst vor Kurzem waren auch in den höchstgelegenen Skigebieten die Anlagen geschlossen worden, denn der Winter war schneereich gewesen wie schon lange nicht mehr. Dann aber fiel es auch den unermüdlichsten Snowboardern nicht schwer, das Brett gegen die Badehose zu vertauschen; es war eine Lust, sich in Sonne und Schwimmbad zu tummeln. Bis der Regen kam. Warmer Regen, gleich von Anfang an heftig und nahezu ununterbrochen. Daniel Rüegsegger, der Historiker und Universitätsprofessor in Bern, mochte Regen, je stärker desto lieber; ihn packte jedesmal ein archaisches Gefühl, das er nicht erklären konnte und auch nicht wollte. Vielleicht waren deswegen historische Flut- und Überschwemmungsereignisse eines seiner Forschungsthemen geworden. Eigentlich galt er als Kapazität auf diesem Gebiet, aber ausser ein paar Kolleginnen interessierte sich kaum jemand für diese alten Geschichten.
Am ersten Tag stand er oft am offenen Fenster und genoss das Rauschen. Wunderbar nach dieser Hitze. Später häuften sich die beunruhigenden Meldungen in den Nachrichten. Im Fernsehen und per Webcams konnte er zuschauen, wie die Aare an Wucht zunahm. Die Reguliermassnahmen im Drei-Seen-Land verhinderten anfänglich Überschwemmungen, man hatte aus früheren Hochwassersituationen viel gelernt und wusste jetzt, dass man den Bielersee rechtzeitig absenken musste. Das war Anfang Mai nicht einfach gewesen, denn die Schneeschmelze war in den Bergen in vollem Gang, so dass Lütschine, Kander, Simme und Saane ihre Wasserpracht geradezu jubelnd dem Mittelland entgegen führten. Aber die tüchtigen Mitarbeiter der Regulierzentrale in Bern hatten die Situation im Griff. Hatten sie jedenfalls zu Beginn des Regens.
Daniel Rüegseggers Sorge nahm zu. Am dritten Tag des grossen Regens vertiefte er sich wieder einmal in die Burgunderchronik, welche Diebold Schilling im Auftrag der Berner Räte 1483 fertiggestellt hatte. Eines der jüngsten Ereignisse darin ist die Flutkatastrophe von 1480: Do man zalt von der gebûrt unsers herren und behalters Jhesu Cristi tusent vierhundert und achzig iare an einem dornstag vor sant Marien Magdalenen tag ving es an regen und regnet drig tag und nacht aneinandern, das es nie ufgehort und warent anders nit, dann gros slegregen . Schilling war Augenzeuge und musste sich nicht aufs Hörensagen verlassen.
Am vierten Tag des grossen Regens – ein solches Ereignis war hierzulande historisch nicht belegt, aber warum sollte es unmöglich sein? – überschlugen sich die Schadenmeldungen. Thun stand trotz des Entlastungsstollens unter Wasser, ebenso das Mattequartier in Bern, grosse Teile des Berner Seelands und die Dörfer entlang der Emme. Was nicht an die Öffentlichkeit drang, war eine gehässige Telefonkonferenz auf höchster Regierungsebene zwischen den Kantonen Bern, Solothurn und Aargau: «Sie überschreiten die reglementarisch erlaubte Höchstwassermenge der Aare in Murgenthal jetzt schon seit 29 Stunden! Uns reicht’s!» – «Wir stehen selbst vor einem Desaster! Sind Sie dort unten zu wenig katholisch? Beten Sie doch mal inbrünstig zu Petrus, vielleicht hilft das. Wenn wir einen Ausweg wüssten, hätten wir den Regen schon längst abgestellt. Zehntausende Personen sind im Kanton Bern bedroht!» – «Und jetzt bedrohen Sie noch viel mehr Leute im Solothurnischen und im Aargau. Das hat man von einem Lumpenkanton wie Bern, unfähig und immer schnell am Schieberöffnen beim Regulierwehr Port!» Es war einer Mitarbeiterin in der Telefonzentrale zu verdanken, dass hier die unergiebige Diskussion unter einem fadenscheinigen Vorwand beendet wurde. Drei Regierungsräte sassen zornig, frustriert und voller Angst in ihren Büros und wussten keinen Ausweg. Die Rettungskräfte waren seit Tagen im Einsatz, aber menschliche Ingenieurkunst und Tatkraft wirkten jetzt lächerlich klein. Sandsäcke und schweres Räumgerät gegen ein Jahrtausendhochwasser?
Am fünften Tag waren die Niederschläge endlich weniger heftig, aber der warme Regen hatte die Schneeschmelze erst recht in vollen Schwung gebracht. Die Pegel der Flüsse und Seen stiegen noch immer. Daniel wanderte von seiner Wohnung im Länggassquartier zur Äusseren Enge und in den Kleinen Bremgartenwald, wohlweislich in Gummistiefeln. Der Wald triefte vor Nässe und strotzte gleichzeitig vor lebenskräftigem Grün. An der Geländekante, welche die Aare überragt, blieb er stehen. Der Fluss zwängte sich achtzig Meter unter seinem Standort durch sein Bett, sein gewaltiges Rauschen schien nach mehr Platz zu schreien, seine braune Farbe war ein einziger Protest. Uni-Kollegen aus der Geologie hatten ihm schon vor Jahren erklärt, dass die Aare hier übersteilte Hänge geschaffen hatte, ein Gelände, das noch nicht zur Ruhe gekommen war und sich deshalb noch während Tausenden von Jahren durch Rutschungen da und dort verändern würde, bis die Engehalbinsel, der Kleine Bremgartenwald und eigentlich auch die Autobahn verschwunden wären. Jetzt, wo einige Kilometer flussabwärts ein See, eine Staumauer, ein konventionelles und ein Kernkraftwerk standen, könnte bereits morgen eine Katastrophe eintreten.
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