Endlich konnte sie schreien, doch die Gesichter ihrer Eltern waren zu dümmlichen Grimassen verzerrt. Ronny und Rebekka boten Lisa noch mehr von dem Zeug an. Lisa wollte nicht. Sie rannte aus dem Haus, in die nächtliche Dunkelheit. Die Gespenster folgten ihr. Packten sie, schlüpften durch ihren Mund in ihren Körper, ihre Seele, ihr Herz. Nisteten sich in ihrem Innern ein. Seitdem hörte sie die Stimmen immer wieder in ihrem Kopf, spürte die krötenkalten fremden Wesen in sich.
Wo sie in jener Nacht geschlafen hatte, wusste sie nicht. Am Morgen brachte eine Nachbarin sie zu ihren Eltern zurück. Die hatten ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt. Noch immer lief Musik. Rolling Stones. Der dumpfe Bass liess den Raum erbeben. Ronny und Rebekka dösten am Boden. Die Frau mit den bemalten Brüsten lag daneben, die rote und grüne Farbe bis zum Bauchnabel verschmiert. Ihre Atembewegungen waren zu sehen. Auf und ab, auf und ab. Lisa schaute ihnen lange zu und fühlte eine klaffende Leere in sich. Janis Joplin krächzte ein Lied, die Töne wehten über die schlafenden Körper. Dann sang Jim Morrison. Lisa kannte die Musiker. Es waren die toten Helden ihrer Eltern.
«Tot», wisperte es in Alrunas Kopf, als sie wieder in der Gegenwart ankam. Noch immer kniete sie in der Erde, die Hände zwischen den Alraunen. «Tot. »
Die Abenddämmerung war einem bedrohlichen Dunkelviolett gewichen. Die Berge, düstere Giganten in der Ferne, waren nur noch undeutlich zu erkennen. Einsam fühlte sie sich, so einsam. Sie meinte, den Flügelschlag von Abraxas zu hören. Doch es war nur eine ganz gewöhnliche Krähe, die sich auf der Eiche neben dem Haus niedergelassen hatte. Alruna blieb lange so sitzen. Lauschte dem Rascheln der Blätter. Spürte die kühle Brise, die über die Gräser strich. Der Anflug von Trauer, die sie vorhin heimgesucht hatte, machte einer Entschlossenheit Platz. Ihre Mission war noch nicht beendet. In weniger als einem Monat würde sie 27 Jahre alt werden. Bis dann musste es vollbracht sein.
Alruna hob den Kopf und blickte nach vorn. Die letzten hellen Streifen am Firmament waren verschwunden. Der Himmel war schwarz.
Nora ging im Bus Sarah Doblers Liste der «Store & Go»-Mitarbeiter nochmals durch. Dank der ausführlichen Beschreibung hatte sie einen ungefähren Eindruck, was an jenem Abend vorgefallen war. Allerdings hegte sie Zweifel, dass Kowalski tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Vielleicht hatte Mike doch Recht. Aber solange sie einen Mord nicht absolut ausschliessen konnte, würde sie der Sache nachgehen.
Sie las die Namen:
Maximilian Kowalski, 59, Geschäftsführer, verstorben
Cedric Stark, 45, Leiter PR, wird evtl. Kowalskis Nachfolger
Roland Wehr, 38, Rechnungswesen
Ruth Mäder, 58, Sekretariat
Claudia Campanini, 26, Sekretariat
Marco Benedetto, 27, Empfang
Tim Stalder, 36, Leiter Lagerhallen
Gerhard Furrer, 52, Mitarbeiter Lagerhallen
6 weitere Mitarbeiter in den Lagerhallen
13 Männer für Umzüge und Transporte
4 Personen der Reinigung
Dann fand sie das Gebäude an der Hohlstrasse beim Bahnhof Altstetten. Wie abgemacht würde Sarah Dobler den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Nora als Versicherungsdetektivin vorstellen. Das war nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt und würde Nora die Möglichkeit geben zu ermitteln, ohne dass sich jemand bedrängt fühlte.
Nora nahm den Personenaufzug neben dem Warenlift. Ein Schild gab Auskunft darüber, was wo zu finden war. Das 2. Untergeschoss war mit «Garage» und das 1. Untergeschoss mit «Grosse Lagerhallen» angeschrieben. Zwischen Erdgeschoss und 6. Stock befanden sich die mittleren und kleinen Lagerräume, im 7. war die Administration. Die Dachterrasse war nicht aufgeführt, anscheinend führten dort Treppen und kein Lift hoch.
Nora fuhr in die 7. Etage und betrat einen grosszügigen Empfangsraum. Hinter einer Theke sass ein junger Mann an einem Computer und telefonierte. Er hatte ein Kinnbärtchen, schwarze Haare und trug ein Goldkettchen mit einem Kreuz. Sie warf einen Blick auf die Liste. Das musste Marco Benedetto sein.
Als er sie sah, bedeutete er ihr, er sei gleich für sie da. Während seine Finger über die Tastatur rasten, sprach er ins Headset: «Kein Problem, Signor Colla, Sie können den Raum jederzeit Ihrer neuen Situation anpassen. Sì … selbstverständlich… mittelgross … » Er klickte auf eine andere Bildschirmseite, dann sagte er: «Es sind noch sechs mittlere Räume frei. Bis fünfunddreissig Kubikmeter. Sì. Grazie. Arrivederci. » Er legte den Kopfhörer zur Seite und kam strahlend auf Nora zu. «Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?»
«Mein Name ist Nora Tabani, ich bin mit Frau Dobler verabredet. »
«Sie sind die Dame von der Versicherung?» Sein Gesicht verdüsterte sich. «Grässliche Sache, die da passiert ist. Un momento, ich rufe sie gleich. »
«Warten Sie noch», bat Nora. «Wenn ich Sie schon vor mir habe… Sie sind doch Marco Benedetto, oder?»
«Wie er leibt und lebt. » Er lächelte wieder und zeigte ihr eine Reihe schneeweisser Zähne, um die ihn ganz Hollywood beneiden würde.
«Darf ich fragen, was Ihre Aufgaben bei ‹Store & Go› sind?»
«Ich bin das Herz der Firma», sagte er mit stolzgeschwellter Brust. «Il cuore della compagnìa. Bei mir laufen alle Fäden zusammen. » Er zählte seine Aufgaben an den Fingern auf: «Anfragen für Raummiete. Termine. Umzugsvereinbarungen. Kundenbetreuung. Individuelle Lösungen bei Sonderwünschen. » Als er alle fünf Finger hochgestreckt hielt, machte er eine schwungvolle Bewegung mit der Hand, stützte sie in die Hüfte und sagte: «Haben Sie ein Problem, Signora, wenden Sie sich an Marco!»
«Ich werd’s mir merken», lachte sie. «Könnten Sie mir aus Ihrer Sicht erzählen, wie sich das Ganze abgespielt hat?»
«Natürlich. Geht es darum, ob sich Herr Kowalski fahrlässig verhalten hat? Dann zahlt die Lebensversicherung nicht, nehme ich an. »
«Haben Sie eine gute Auffassungsgabe?», fragte Nora zurück.
«Ich denke schon», meinte er selbstgefällig. «Wenn Sie meine Meinung hören möchten: Herr Kowalski hat sich an diesem Abend eine Blösse gegeben wie nie zuvor. Ich glaube, er wollte Eindruck schinden und hat seine Trinkfestigkeit überschätzt. »
«Bei wem?»
«Wie bitte?» Benedetto schien etwas aus dem Konzept geworfen.
«Bei wem wollte er Eindruck schinden?»
«Ach so, bei Claudia Campanini, natürlich», sagte er, und sein Blick wurde sanft. «Sie arbeitet erst seit ein paar Monaten bei uns. Er hat bis jetzt noch kaum ein Wort mit ihr gewechselt, wie ich weiss. Da war die Party eine willkommene Gelegenheit für einen kleinen Flirt. » Er schaute Nora verschwörerisch an. «Natürlich ist Claudia nicht darauf eingestiegen. Kowalski hätte ja ihr Vater sein können. Ausserdem hat sie einen ganz anderen Geschmack bei Männern. »
«Darf ich raten?»
Benedetto lächelte mit dem Charme eines Latin Lovers. «Sie haben mich durchschaut. Klar gefalle ich ihr. Sie mir auch. Doch deswegen hab ich den Kerl noch lange nicht übers Geländer gestossen. »
«Wer behauptet denn so was?»
«Na, ich zähle eins und eins zusammen, Signora Tabani:Kowalski ist tot. Ein paar Tage später tauchen Sie auf und befragen mich. Versicherungen brauchen normalerweise Wochen, bis sie reagieren, da denke ich mir, Sie kommen von einem anderen Dienst. » Er kam näher, schaute kurz nach rechts und nach links und flüsterte verschwörerisch: «Sie sind eine Undercover-Agentin, stimmt’s?»
Nora grinste. «Lassen Sie mich nicht auffliegen!»
«Ich behalt’s für mich, Ehrenwort. » Er hob die Finger augenzwinkernd zum Schwur wie einer, der genau weiss, wie er auf das andere Geschlecht wirkt. «Allerdings muss ich Ihnen ehrlich sagen: Wundern tät’s mich nicht, wenn ihn jemand umgelegt hätte. »
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