«Ich liebe dich, Cedric. »
Ohne jegliche Regung antwortete er: «Ich liebe dich auch, Antje. »
Es ging gegen Mittag, als Sarah Dobler Nora die Dachterrasse zeigte.
Vom Ende des Gangs waren sie die Treppen hochgestiegen und auf der riesigen Plattform gelandet. Die Sicht von hier war phantastisch. Von der einen Seite aus sah man zum Albis hinüber, von der anderen zum Käferberg und Zürichberg.
«Wird die Terrasse häufig benutzt?», fragte Nora.
«Ab und zu verbringt jemand seine Mittagspause hier oben. Und seit das Rauchverbot durchgesetzt wurde, verziehen sich die Raucher mehrmals pro Tag für ein paar Minuten hier herauf. »
«Wer gehört zu ihnen?»
«Da die Umzugsleute vor der Garage rauchen, sind das nur Gerhard Furrer vom Lager und Claudia Campanini, manchmal begleitet von Marco Benedetto. Und dann natürlich Herr Kowalski. Bis zu jenem Tag … »
Nora ging zum Terrassenrand. Eine Betonmauer reichte ihr bis zur Hüfte, darüber war eine Metallstange angebracht. «Wo genau ist er hinuntergestürzt?»
Dobler zeigte es ihr, und Nora bemerkte, dass die Sekretärin erschauerte, als sie den Ort des Unglücks betraten. Sie wagte sich nicht ganz an den Rand, schob zögerlich einen Fuss vor und bog den Oberkörper nach hinten, weg vom klaffenden Abgrund. Hatte sie Höhenangst?
Nora stützte sich aufs Geländer und schaute in die Tiefe. Die Autos in der Hohlstrasse waren zu sehen. Ein paar Leute gingen auf dem Trottoir, man hörte Hupen und das Rauschen des Verkehrs. Dort unten war Kowalskis Leiche gelegen. Nichts erinnerte mehr daran, kein Fleck, keine markierte Stelle. Nora wandte sich ab und überquerte die Terrasse. Sie war blitzblank geputzt, als hätte hier nie eine Party stattgefunden. Nora zückte ihre Kamera, machte Aufnahmen in jede Richtung, fotografierte den Abgang zur Treppe, die Terrassentür und weiter hinten einen Lüftungsschacht. Dann ging sie nochmals zur Brüstung und knipste die Strasse. Als sie in die Tiefe blickte, wurde sie von Schwindel ergriffen. Auf einmal konnte sie sich vorstellen, wie ein Beschwipster, der seine Bewegungen nicht ganz unter Kontrolle hatte, vom Abgrund angezogen, halb hinunterfiel, halb sprang, ohne dass eine Drittperson dabei ihre Hände im Spiel hatte. Waren Jan und sie völlig auf dem Holzweg? War Kowalskis Tod nichts anderes als das, was Mike behauptet hatte? Ein Unfall, schockierend zwar, aber nicht unerklärlich?
Als hätte Sarah Dobler das Gleiche gedacht, sagte sie: «Man kann es fast nicht glauben, dass es etwas anderes als ein Unglücksfall war. »
«Sie haben Recht. Nur weil niemand Kowalski mochte, heisst das nicht, dass er getötet wurde. Vielleicht hat aber jemand einen Mord in Auftrag gegeben, um sich die Hände nicht selber schmutzig zu machen… Ich tue, was ich kann, um mögliche Hintergründe aufzudecken. Doch es kann sein, dass wir uns geirrt haben. »
«Es ist nett, dass Sie in der Mehrzahl sprechen. Wenn, dann hätte ich mich geirrt. » Dann fügte sie hinzu, als sei sie innerlich ganz woanders. «Aber ich glaube es eigentlich nicht. »
Wieder nahm Nora einen Gesichtsausdruck an ihr wahr, den sie schon einmal, als Dobler sie in ihrem Büro aufgesucht hatte, gesehen hatte. Etwas Unbeschreibliches. Eine tief eingegrabene Angst. Hatte ihr Sarah Dobler überhaupt die ganze Wahrheit gesagt?
«Ich brauche von Ihnen», sagte Nora, «die Adressen von Kowalskis letzten beiden Chefsekretärinnen. »
«Ich verstehe. Sie haben mit Roland Wehr über die Sache von damals gesprochen. »
«Hat sich Kowalski bei Ihnen nie Übergriffe erlaubt?»
Dobler seufzte. «Er hat es versucht. »
Nora wartete, ob noch mehr käme, doch Sarah Dobler schwieg.
Sie stiegen wieder hinunter. Am Empfang standen mehrere Kunden. Marco Benedetto war in seinem Element. «Sì, Signore!», rief er, kopierte etwas und händigte das Papier einem fülligen Herrn aus. Dann sprach er ein paar Worte mit einem älteren Paar, das nachfragte, ob seine Musikinstrumente sicher aufbewahrt und keinerlei Feuchtigkeit ausgesetzt seien.
«Feuchtigkeit!», rief Benedetto empört. «Bei ‹Store & Go›? Da sind Sie aber auf der Holzstrasse!»
Die Frau lachte und sagte: «In Ordnung, Sie haben uns überzeugt. Wir nehmen einen Raum von 40 Kubikmetern. Und übrigens: Es heisst Holzweg, junger Mann. »
«Wie bitte?»
«Wir sind nicht auf der Holzstrasse, sondern auf dem Holzweg. »
«Oh, nein, meine Dame, sind Sie bestimmt nicht! Ihre Instrumente sind bei ‹Store & Go› perfetto aufgehoben, das verspreche ich Ihnen. »
Benedetto entdeckte Nora, legte sich zum Zeichen seiner Verschwiegenheit den Zeigefinger an die Lippen und wirbelte von einem Kunden zum nächsten. Nora machte noch einige Aufnahmen des Eingangsbereichs, der Gänge und einzelner Büros. Das würde ihr später helfen, sich die Räumlichkeiten in Erinnerung zu rufen.
Dann verabschiedete sie sich von Sarah Dobler und fuhr mit dem Lift ins zweite Untergeschoss. In einer riesigen Halle arbeiteten mehrere Männer in Overalls. Auf den Parkplätzen standen Personenwagen, Liefer- und Lastwagen. Die Arbeiter nahmen kaum Notiz von Nora. Sie luden schwere Kisten auf Handkarren und Gabelstapler, fuhren mit diesen zum Warenlift und verschwanden. Andere schoben mit Seilen und Riemen Klaviere, Schränke und Kommoden von den Ladeflächen der Umzugswagen. Es roch nach Benzin und laufenden Motoren.
Einer rief: «Nicht so schnell, Chandra, das Teil ist noch nicht fixiert!»
Ein schmaler Tamile drosselte sein Tempo und gab etwas zurück, das ironisch klang. Zwei Männer redeten auf Türkisch und gestikulierten vor einem Stapel Schachteln. Ein anderer fuhr einen der Firmenwagen zu einem entfernten Parkplatz. Nora fotografierte Halle, Pfeiler, Autos und Eingänge zu verschiedenen Hinterräumen.
«Was tun Sie hier?», brüllte ein Schwarzhaariger und stürzte auf sie zu.
Als er näher kam, sah Nora sein Namensschild auf Brusthöhe.
«Guten Tag, Mehmet. Ich habe von Frau Dobler die Erlaubnis, mich in allen Räumen umzusehen, um –»
«Ah!» Er hielt ihr versöhnlich seine ölverschmierte Hand hin. «Sie sind die Versicherungsdetektivin! Entschuldigen Sie, wir sind angewiesen, auf Eindringlinge zu achten. Sicherheit und Diskretion stehen bei uns an oberster Stelle. Sehen Sie, dort und dort – alles wird aufgezeichnet!» Er zeigte in die Ecken, in denen Videokameras hingen. Bei den Aufzügen waren ebenfalls welche angebracht.
«Beeindruckend», sagte sie.
«Das ist es. Wenn ich Ihnen helfen kann, suchen Sie mich einfach. Ich bin immer hier unten. » Er kehrte an seine Arbeit zurück.
Nora ging noch eine Weile durch die Halle, dann hatte sie genug gesehen. Sie fuhr ins erste Untergeschoss hoch. Hier waren die grossen Mieträume untergebracht. Lange Gänge, die sich weiter hinten verloren, waren von Metallkabinen gesäumt, alle angeschrieben mit der Gang- und Raumnummer. Die Halle war an die acht Meter hoch. Da gab es Mieträume, in denen das Mobiliar eines Einfamilienhauses Platz hatte, und solche, in die man den Inhalt eines Hotels pferchen konnte. Die Kabinen waren sichtgeschützt und die Türen mit einem Schlitz für die Zugangskarte ausgestattet. Nora schaute sich um. Auch hier befanden sich überall Kameras. Auf den sauberen Wegen waren ab und zu schwarze Reifenspuren eines Transportkarrens zu sehen. Aus der Ferne hörte Nora Schleif- und Poltergeräusche, doch sie konnte nicht sagen, ob sie aus diesem Geschoss oder der Garage darunter stammten. Eine eigenartige Welt war das hier unten. Die Neonröhren an der Decke leuchteten grell, das Summen der elektrischen Leitungen erfüllte die Gänge. Nora sog die Luft tief in ihre Lungen. Es roch seltsam. Einerseits nach Metall und Beton, andererseits nach etwas Undefinierbarem, das Nora bekannt vorkam, das sie aber nicht benennen konnte. Irgend etwas Chemisches, Pulvriges. Dann wusste sie es: Insektenvertilgungsmittel. Natürlich. All die Kleider, Vorhänge und stoffbezogenen Möbel in dieser Halle waren ein gefundenes Fressen für Motten und anderes Ungeziefer.
Читать дальше