1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Ich stimme zu: »Entschuldigen Sie, Doktor Kelter, aber Sie haben in der Tat vollkommen recht: In diesem Augenblick interessiert mich vor allem Bernhard Schmidt.«
»Jaja!«, ruft Herr Kelter amüsiert aufgebracht, »ich verstehe schon: Romanschreiber sind Sonderlinge – verzeihen Sie mir meine Direktheit – und interessieren sich für Sonderlinge. Denn sonderbar war Ihr Schmidt zweifellos.«
»Erzählen Sie mir, inwiefern.« Ich schalte den Recorder mit einer fragenden Geste ein. Er nickt, es scheint ihn überhaupt nicht zu stören.
»Nun, vielleicht insofern, als er dreißig Jahre in einem Loch wie Mittweida lebte. Das würde ich verstehen, wenn er Philosoph gewesen wäre. Dessen Welt sich in seinem Kopf befindet. Wenn es keine Rolle gespielt hätte. Wie Kants fünfzig Jahre in Königsberg, Husserls fünfundzwanzig Jahre in Freiburg. Oder wenn er selbst Schriftsteller gewesen wäre. Denen ist es offenbar auch egal, in welcher Umgebung sie fabulieren. Aber er war Techniker . Ich verstehe, dass solch ein blinder handwerklicher Individualismus vor zweihundert Jahren noch fruchtbar gewesen sein mochte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert?! Wo die ganze technische Entwicklung von Kontakten und Informationen abhängt?! Wie kann ein vernünftiger Techniker – heute wird er bisweilen sogar als Genie bezeichnet – sich für dreißig Jahre in Mittweida vergraben? Mir kommen nur zwei Gründe in den Sinn, und keiner der beiden ist besonders ehrenwert. Erstens: Trägheit. Er blieb dort hängen, wo er zufällig gelandet war. Schlicht aufgrund eines provinziellen Minderwertigkeitskomplexes. Wer aus der einen Peripherie kommt, macht sich nicht die geringste Mühe, die andere zu verlassen. Die zweite Möglichkeit: Blinde Überheblichkeit. Ich bin Bernhard Schmidt von der Insel Nargen, ich brauche euer Berlin und euer München nicht. Egal wo ich sitze, ich arbeite, schwitze, schufte, poliere mich nach oben. Bis ihr alle zu mir kommt. Halt, halt, halt. Ich sehe Ihnen an, dass meine extremen Überlegungen Sie irritieren. Aber Sie wissen aus eigener Erfahrung, dass beide Elemente in der Natur des Menschen vorhanden sind . Natürlich nicht in ihrer chemischen Reinform, also entweder dieses oder jenes. Sondern stets in praktischen Kombinationen. Und überhaupt: Ich bin in keiner Weise mit Ihrer Mentalität da drüben vertraut. Das ist Sache der Sowjetologen. Aber ich habe den Eindruck, dass es Ihresgleichen an unserer objektiven, gleichzeitig messerscharfen und – wenn es Anlass dazu gibt – anerkennenden, unmittelbaren, etwas geschwätzigen Art, kritisch zu denken, fehlt. Bei Ihnen heißt kritisches Denken entweder, etwas zu vernichten oder es in den Himmel zu heben. Und Schmidt gehört bei Ihnen seltsamerweise zu denen, die man in den Himmel hob. Ist es nicht so?«
»Herr Kelter, meine Antwort hat für Sie keinerlei Bedeutung. Schließlich haben Sie weder vor, eine sowjetologische Abhandlung zu verfassen, noch einen Roman über Bernhard Schmidt. Erlauben Sie mir also die Frage: Könnten Sie nun ausführen, wann und unter welchen Umständen Sie seinerzeit nach Mittweida fuhren?«
»Also, es war, glaube ich, im Jahr 1925. Ja. Im Frühjahr 1925. Ich erinnere mich, dass die Inflation vorüber war, und Vater die Fabrik retten konnte. Folglich war nicht die gesamte deutsche Industrie in den Taschen von Stinnes und seinesgleichen gelandet. Wir hatten angefangen, ein neues Haupthaus zu errichten und erste Aufträge vom Staat erhalten. Und dann begann mein Vater, sich schlichtweg dafür zu interessieren, was für ein Mann dieser Schmidt war.«
»Schmidt war zu dieser Zeit also schon ein Begriff ?«
»Nun, das nicht. Aber er hatte schon vor dem Krieg für das Potsdamer Observatorium einige überraschend ausgereifte Geräte angefertigt.«
»Und Ihr Vater fuhr im Frühjahr 1925 nach Mittweida, um sich selbst einen Eindruck von Schmidt zu machen?«
»Exakt.«
»Womöglich, um ihn für die Firma anzuheuern?«
»Nein, nein. Nicht doch. Oder vielleicht, hätte er sich als besonders tauglich herausgestellt, wenn Sie verstehen.«
»Und Sie begleiteten Ihren Vater?«
»Ja. Ich studierte Physik an der Technischen Hochschule Berlin. Im dritten Semester. Und half meinem Vater in der Firma. Planung. Korrespondenzen. Auf Dienstreisen trat ich als sein Sekretär auf. Günstiger und vertrauenswürdiger als irgendein bezahlter Fremder.«
»Und weiter?«
»Wissen Sie, ich habe keine Ahnung, wie dieses Mittweida heute unter Honecker ist. Aber damals , zu Eberts Zeiten war es ein bedrückendes provinzielles Nest. Wir bekamen im besten Hotel der Stadt ein Zimmer mit Kakerlaken und machten uns auf die Suche nach Schmidt. Seine Adresse kannten wir. Und je weiter wir gingen, desto überzeugter waren wir davon, dass es in dieser Stadt absolut nichts Interessantes gab.«
»Nun, immerhin gab es das berühmte Technikum. Wo auch Schmidt studiert hatte.«
»Wissen Sie, wenn es sich bei Mittweida um ein siebtklassiges Nest handelte, dann war dieses Technikum eine, sagen wir, fünftklassige Lehranstalt. Also nicht viel besser als die Stadt selbst. Wussten Sie das nicht? Nach heutigem Verständnis war es einfach eine Berufsschule. Inhaltlich. Nun, vielleicht ein wenig effektiver, wie alle Lehranstalten zu jener Zeit, aber im Grunde eine Berufsschule. Heute lernen diese sechsjährigen Rotzlöffel in der ersten Klasse die Grundlagen der Mengenlehre. Damals wurde noch das Einmaleins gelehrt. Damals hielt man Adam Riese noch in Ehren. Und die Ergebnisse waren im Verhältnis – ich sage, im Verhältnis, Sie verstehen – besser als heute. Aber was das Technikum Mittweida betrifft – es produzierte trotzdem nur Spezialisten mit mittelmäßigen Fähigkeiten, denen man Ingenieurdiplome gab. Aber deshalb waren sie noch keine Ingenieure mit einer akademischen Bildung. Und Schmidt hatte nicht einmal solch ein Diplom in der Tasche.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Absolut. Mein Vater hat die Unterlagen in der Kanzlei des Technikums später persönlich überprüft.«
»Mit welchem Ziel?«
»Hm, ganz einfach. Er wollte Schmidt kennenlernen. Und dabei ging er mit deutscher Gründlichkeit vor.«
»Und weiter?«
»Nun, ich sagte bereits, dass wir seine Adresse hatten. Vergleichsweise nah am Bahnhof. In der Wilhelmstraße, wenn ich mich nicht irre. Ein dreigeschossiges Mietshaus, dem man die Verwahrlosung aus der Kriegszeit ansah. Das Gartentor verbogen. Im Erdgeschoss ein genossenschaftlicher Kindergarten oder dergleichen. Lärm und Geschrei aus den geöffneten Fenstern. Eine schmale, von Zwiebeldunst erfüllte Treppe in den zweiten Stock. Im dunklen Eingang zur Wohnung kleinbürgerlicher Naphthalingeruch und eine ältere Frau mit toupiertem Haar. An ihrem Blick war zu erkennen, dass der Mieter nichts für Besuch übrighatte. Außerdem war der Mieter nicht zu Hause. Er musste in seiner Werkstatt sein. Aber vielleicht auch nicht. Wie die Frau schwammig formulierte. Wir ließen uns den Weg erklären und suchten die Werkstatt auf. Diese lag in drei- oder vierhundert Metern Entfernung. Nebenbei bemerkt: Dreißig Jahre lang spielte sich Schmidts gesamtes Leben innerhalb dieser dreihundert Meter ab. Das Mietzimmer. Das vegetarische Lokal ›Sanitas‹ in der Nachbarstraße. Weiter zur Werkstatt. Dahinter der Aussichtspunkt. Und unmittelbar neben der Werkstatt das Restaurant ›Lindengarten‹. Also wortwörtlich dreißig Jahre und dreihundert Meter!«
Ich verkneife mir, ihn zu korrigieren, dass es von Schmidts Bleibe bis zu seiner Beobachtungsstation immerhin sechshundert Meter quer durch Mittweida waren. Aber ich ergänze:
»Herr Kelter – zumindest vor dem Ersten Weltkrieg besaß er auch ein Auto, was es ihm in jeden Fall erlaubte …«
»Was erlaubte ihm das?!«, ruft Kelter und schenkt uns großzügig Wermut nach. »Gelegentliche Fahrten mithilfe von Freunden. Er selbst konnte ja nicht fahren. Und das war in der Tat davor . Dann kam der Krieg, und Schmidt wurde interniert. So auch seine Freunde. Als Bürger eines Feindesstaates, nicht wahr? Als er freikam, herrschte Krieg. Das war nicht die Zeit zum Herumfahren. Darauf folgten die Not der Nachkriegszeit und die Inflation. Er verkaufte sein Auto für fünfhundert Milliarden Mark und bekam dafür eine Woche später drei Laib Brot!«
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