Jaan Kross
Bernhard Schmidts
Roman
Aus dem Estnischen von
Cornelius Hasselblatt und
Maximilian Murmann
Mit einem Nachwort von
Cornelius Hasselblatt
Titel der Originalausgabe
Vastutuulelaev Tallinn: Eesti Raamat 1987 Copyright © Heirs of Jaan Kross
Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text
wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Der Verlag dankt dem Eesti Kultuurkapital
für die finanzielle Unterstützung
durch das Traducta-Programm.
Erste Auflage 2021
© der deutschsprachigen Ausgabe Osburg Verlag Hamburg 2021 www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg
Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-254-8
eISBN 978-3-95510-263-0
Vorwort des Autors
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Nachwort
Dieses Vorwort verfolgt drei Aufgaben: Zunächst soll es versuchen, das Genre des vorliegenden Buchs zu bestimmen. Zweitens soll darin mit einigen Zeilen auf die Entstehungsgeschichte eingegangen werden. Drittens soll darin zumindest den wichtigsten jener zahllosen Menschen gedankt werden, die mir beim Schreiben des Werks unter die Arme gegriffen haben.
Nun, das Buch, das Sie vor sich haben, ist keine Biografie Bernhard Schmidts im wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Sinn. Legt man den Begriff weit genug aus, könnte man das vorliegende Buch vielleicht als romanisierte Biografie bezeichnen. Aber nach Meinung des Autors handelt es sich trotzdem in erster Linie um einen Roman. Das bedeutet im Grunde, dass historische Fakten und Ausgedachtes zwischen den Buchdeckeln gleichermaßen real sind. Zum Beispiel sind meine Unterhaltungen mit den Menschen, die ich in der Bundesrepublik Deutschland getroffen habe (wo ich mit ihnen über Bernhard Schmidt sprach) genauso real wie meine Gespräche mit Erik Schmidt auf Mallorca (wohin zu reisen sich als zu kompliziert herausgestellt hatte, weshalb ich überhaupt nicht dort gewesen bin). Nebenbei hat der Gedankenaustausch mit Erik Schmidt zumindest teilweise auch außerhalb der Romanebene per Post oder Telefon stattgefunden.
Ein Roman also. An den ich mich nur dank gewisser Umstände gewagt habe. In einem Interview der Kulturzeitschrift »Sirp ja Vasar« aus dem Jahr 1980 wurde ich gefragt, ob es in der estnischen Kulturgeschichte noch viele Figuren gäbe, über die man einen Roman mit einem biographischen Ausgangspunkt schreiben könne. In meiner nicht ganz ernst gemeinten Antwort zählte ich zehn Namen auf, über deren Biografie man einen – oder warum nicht auch mehr als einen – Roman schreiben könnte oder gar sollte. An zehnter Stelle führte ich Schmidt an, »einen übersensitiven, einzelgängerischen Insulaner mit Erinnerungen an Kiesel und Quallen, der die 1920er und 30er Jahre mutterseelenallein in Deutschland verbrachte, allein in dem immer stärker tosenden Strudel jener Zeit, einzigartig durch seine wundersame Hand, mit der er unermüdlich, unablässig, unnachgiebig Linsen und Spiegel schliff, um den Sternen näherzukommen.«
Diese etwas romantische Tirade wurde zufälligerweise gelesen von dem Mathematikdoktoranden Peeter Müürsepp aus Tartu, dessen größtes Verdienst darin besteht, Schmidt in populärwissenschaftlichen Publikationen bekannt zu machen. Er schrieb mir. Wann ich mit der Arbeit an dem Roman beginnen würde? Ich antwortete ausweichend. Er suchte mich auf und weckte mein Interesse für das Thema. Und legte mir mit seiner selbstlosen Manier über Jahre hinweg all das erforderliche Material, an das er gelangt war, auf den Tisch. Folglich möchte ich als Erstes Peeter Müürsepp danken. Nicht weniger danke ich der Gegenwindfamilie des Bergedorfer Observatoriums. Besonders Prof. Dr. Arthur A. Wachmann, der mir großzügigerweise Zugang zu seinen beachtlichen Schmidtiana gewährt hat. Und natürlich den Verwandten von Bernhard Schmidt, allen voran seinem Neffen Erik Schmidt für die bereits erwähnten Briefe und Telefonate, Bernhard Schmidts Nichte, Dagmar Siitam in Tartu, für die zahllosen Einblicke in die Familie, und den vielen älteren Bewohnern von der Insel Naissaar, zu Deutsch Nargen, für ihre Erinnerungen, die sie freundlicherweise mit mir teilten. Sowie Dutzenden von Menschen aus Tallinn, Hamburg, Helsinki und Tõravere, die sich die Mühe machten, meine Fragen zu beantworten und sich über kurz oder lang mit meinen Problemen beschäftigten. Dr. Seppo Kuusisto aus Helsinki danke ich für die herausragende Quellenkenntnis zu Bernhard Schmidts letzten Lebensjahren. Dem Physikdoktoranden Uno Veisman danke ich für die zahllosen Präzisierungen technischer Details, die sich in meinem Text finden. Sowie dem Wissenschaftler Jaan Einasto für die flüchtigen, aber im Verlauf meiner Arbeit essenziellen Ermutigungen.
J. K.
Tallinn, November 1986
Das ist nun zwei Jahre her – ich war gerade aus Lappland zurückgekehrt –, wir standen im Stadtpark unter den Glaskugeln, die ich dort in den Bäumen zweihundert Meter von den Fenstern meines Arbeitszimmers entfernt zur Kontrolle meiner Spiegel aufgehängt hatte (die Polizei hatte sich in den zehn Jahren seit Ende des Krieges an sie gewöhnt und ertrug sie nun). Wir standen da in der Dämmerung eines Juliabends, und ich nahm deine Hand in die meinige, deine glatte, weiche, für eine Frau kräftige und große, schicksalhaft mit mir verbundene Hand, die auf dem Handrücken – ich brauchte gar nicht mehr hinzuschauen und hätte ohnehin nichts mehr gesehen, weil die Dämmerung zu weit fortgeschritten war – ein kleines Mosaik von Sommersprossen hatte. Wie die Plejaden, wie das Siebengestirn, auf den ersten Blick sieht man zehn oder elf Sterne, aber bei sorgfältigem Hinschauen sieht man ein halbes Tausend. Ich nahm deine Hand in die meinige und sagte: Johanna, ich gehe jetzt nach Hamburg. Für immer. Und bevor du ausrufen konntest ›Meine Güte, dann packe ich meine Koffer und komme mit!‹, sagte ich: Aber komm nicht mit. (Nicht ›Komm vorerst nicht mit‹, sondern ›Komm nicht mit‹.) Bleib hier, in Mittweida.
Du zogst deine Hand aus meiner und sagtest ganz leise: Nun gut.
Das ist nun zwei Jahre her, und ich habe viel darüber nachgedacht. Du weißt, dass ich vielerlei Gründe hatte. Ich habe mich hundertmal gefragt, in welcher Proportion diese Gründe zueinander stehen. Manchmal überfällt mich diese Frage während der Arbeit. Dann sitze ich hier in dem kühlen Keller der Bergedorfer Sternwarte, trete die Pedale und lasse meine Hand über den sich drehenden Spiegel gleiten. In höchster Konzentration, äußerst aufmerksam. Vom Zentrum zum Rand und vom Rand wieder zum Zentrum. Bisweilen sind meine Augen aufs Äußerste angespannt, bisweilen ganz geschlossen. Um jeden hundertstel Millimeter Abweichung mit den Fingerspitzen zu erhaschen (schließlich sind es die einzigen Finger auf der ganzen Welt, die das können). Und dann frage ich mich plötzlich:
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