1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Das Wetter war während unserer Wartewochen besorgniserregend instabil geworden. Die Ankunft der Regenzeit lag in der Luft, und am Nachmittag stieg die Luftfeuchtigkeit jeden Tag in verdächtige Höhen. Aber dazwischen gab es immer noch tadellose Tage, und am Morgen des neunten Mai sah es so aus, als würde der neunte genauso einer werden.
In der letzten Woche hatten uns zwei Professoren der technischen Abteilung der Universität von Manila unterstützt. Hyde und Melchor. Ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiet astronomischer Beobachtungen, aber angenehm lernfähige Kerle. Sodass unsere Artillerie am Morgen tipptopp justiert war, diese Arbeit kontrollierte ich persönlich, wir waren in Schlachtaufstellung und gefechtsbereit.
Die Sonnenfinsternis musste um 14.26 Uhr Ortszeit beginnen. Um eins war der Himmel, würde ich sagen, tadellos. Nur ein gaaanz klein wenig milchig. Aber um vierzehn Uhr entstand um die Sonne herum ein strahlender regenbogenfarbiger Ring. Kaum merklich, aber nicht wegzudiskutieren. Er zeigte eine Verdichtung der Wassertropfen in der für Cirrostratus typischen Höhe. Die anderen hatten es noch nicht bemerkt, und ich sagte niemandem etwas. Aber ich hatte ein Vorgefühl, dass dadurch unsere ganze Unternehmung scheitern würde. Die totale Finsternis war um 15.45 Uhr und 48 Sekunden. Während der achtzig darauf zugehenden Minuten blieb die Sonne zwar von einer Wolkendecke befreit, aber fleckenweise bildete sich Cirrostratus, und die Umgebung der Sonne verschleierte sich gleichmäßig, mit dem Auge kaum wahrnehmbar, aber das Fotografieren störte es auf verfluchte Weise. Dieser Stand herrschte noch während der ersten Minute der totalen Finsternis. Wir standen, saßen, hockten zu fünft – Herr Moll war uns zu Hilfe gekommen – hinter unseren fünf Apparaten. Wir hielten konzentriert den Atem an und fotografierten aus allen Rohren. Hauptziel: beim Aufkommen und während der totalen Finsternis die innere Korona der Sonne als die vielsagendste Zone im Sinne der Erforschung der Sonne abzulichten. Unsere Apparate klickten in regelmäßigen Abständen, um uns herum eine merkwürdige aschfarbene, lila getönte Dämmerung, die bald ihre maximale Dichte erreichte. Eine unwirkliche Dämmerung, in der alles entsetzlich konturenlos ist, man aber gleichzeitig spürt, dass jedes zitternde Blatt am Baum deutlicher sichtbar ist als am helllichten Tag, oder wenn nicht sichtbar, so doch deutlicher vorhanden. Während ich in mein zehn Meter langes Rohr starrte und fotografierte, bemerkte ich eine Gruppe junger Männer aus Sogod, die hinter dem Bretterzaun der Schule umherschlichen, und ab und zu erhoben sich graulila Gesichter über den Rand, die sich über unsere Aktivitäten wunderten. Wir waren schließlich die Sehenswürdigkeit des Dorfes. Während gleichzeitig die Alten und Greise und teilweise selbst die Kinder rechtzeitig in die Kirche geeilt waren, und aus der geöffneten Kirchentür erklang nun in die mittägliche Nacht hinein das Miserere einer asthmatischen Orgel, mit der der Herr gebeten wurde, seine Hand auszustrecken und die Furcht daran zu hindern, über die Menschen zu kommen. Obgleich ich in Gedanken in den Choral einfiel (damit er seine Hand vor die Wolkendecke halte, die sich vom Westen auf den Mond und die Sonne zubewegte), half es nichts: In der zweiten Minute der totalen Finsternis verschluckte der sich verdichtende Cirrostratus Mond und Sonne gleichzeitig und endgültig. Am Ende der totalen Finsternis (das war ungefähr viereinhalb Minuten nach Beginn) war der Himmel wie durch abscheuliche Hexerei von dicken Regenwolken verhangen. Sodass wir das Ende der Sonnenfinsternis nicht verfolgen konnten. Zu der Zeit zogen wir im strömenden Regen das Ölzeug über unsere Geräte.
Baade schrieb später, ich weiß nicht, wen er trösten wollte, wahrscheinlich sich selbst, dass das vom Cirrus erzeugte Streulicht sich zwar sehr ungünstig auf diejenigen Fotos ausgewirkt habe, die Details der äußeren Sonnenkorona zu erfassen versuchten, dass die Fotos der kraftvollen Details der inneren Korona uns aber tadellos gelungen seien. Bah. Mag sein, dass man anderen Menschen in Notlagen Mut zuspricht, aber Selbsttrost kann ich nicht ausstehen. Ich sage also direkt: Auch die Fotos der inneren Korona sind uns nur befriedigend gelungen. Was bedeutet, dass man es ebenso gut hätte bleiben lassen können. Aber ich muss zugeben, dass mir das aus zwei Gründen leichter fiel als Baade. Erstens war er es, nicht ich, der vor allen Behörden und Stiftungen, die uns finanziert und auf die Reise geschickt hatten, den Eindruck erwecken musste, dass wir wenigstens einen wesentlichen Teil unseres Programms trotz allem erfüllt hatten. Zweitens interessierte mich jetzt nur noch meine Bullaugenvision von der Andamanensee: meine Platte.
In der folgenden Woche demontierten wir in den Pausen der sich verdichtenden Sommerregenschauer die Beobachtungsstation und packten alles ein. Am Zweiundzwanzigsten wurde sie nach Cebu zurücktransportiert. Am Achtundzwanzigsten gingen wir bei einem heftigen Regenguss an Bord der »Dardanus« und am übernächsten Tag im gleichen Regen in Manila an Land. Hapags funkelnagelneue, letztes Jahr zu Wasser gelassene »Duisburg« brachte uns über Hongkong, Singapur und Colombo zurück nach Hause. Mit für diese Schiffsklasse völlig normalen 13,5 Knoten. Aber doch tödlich langsam.
»Sie wollen also einen Roman über Bernhard Schmidt schreiben?«
Der Mann mit dem lebhaften Gesicht eines Siebzigjährigen, der in Wirklichkeit über achtzig ist, trommelt mit den Fingern neben seinem Wermutglas auf den Tisch.
Ich nicke.
Unser Gespräch findet zehn Kilometer südlich von Gernsheim statt, in den Weinbergen entlang des Rheins, im Garten, wo über der Rhododendronhecke das schmiedeeiserne Tor zu sehen ist. Die Klingel und das Bronzeschild sind nicht zu sehen. Auf dem Schild steht: »Friedrich Kelter, Dr. rer. nat.« Aber der schmiedeeiserne Bogen mit den schmiedeeisernen Buchstaben ist deutlich zu sehen. Vom Garten aus erscheinen die Buchstaben spiegelverkehrt: SOLNEKLOW ALLIV. Von außen liest man: VILLA WOLKENLOS.
»Warum auch nicht?« Mein Gastgeber lächelt sein sauber rasiertes, sehniges, gerötetes Lächeln, »Schmidt hat sich bei uns ja gewissermaßen – wie soll ich sagen – in eine mythologische Figur verwandelt.«
»Lassen wir den Mythos mal beiseite«, entgegne ich, »aber Sie sind dem echten, leibhaftigen Schmidt begegnet. Sie kannten ihn. Aus diesem Grund …«
»Ja, was heißt ›kannte‹? Oberflächlich gewiss. Und lediglich ihn , aber keinesfalls sein Leben . Das macht ja einen Unterschied. Besonders für einen Romanautor. Von seinem Leben bekam ich nur so viel mit, dass ich meine Zweifel habe, ob es überhaupt genug Stoff für einen Roman hergibt. Aber ich bin natürlich nur ein Geschäftsmann. Und auch ein wenig Physiker. Demnach weiß ich nicht viel über ihr Medium. Abgesehen von dem alten Klischee«, er rührt mit seinem Strohhalm die Eiswürfel um und nimmt einen Schluck Cinzano, »dass ein fähiger Mann aus dem Leben so ziemlich jedes Menschen wenigstens einen Roman herausholen könne.«
Ich entgegne, dass dazu im vorliegenden Fall überhaupt keine speziellen Fähigkeiten nötig seien. Besonders, wenn mir Herr Doktor gnädigerweise mit seinen Erinnerungen unter die Arme greifen würde. Was umso leichter sein dürfte, da seine Erinnerungen mit denen seines Vaters eine Einheit bildeten, und meines Wissens war sein Vater Schmidt gegenüber recht wohlgesonnen. Wenn er jetzt doch bitte …
»Jaja. Wohlgesonnen ist sogar noch vorsichtig formuliert. Sehen Sie, mein Vater war kein Gefühlsmensch. Er war Unternehmer. Und Professor, das auch. Aber nebenbei bemerkt hatte er den Titel nicht von irgendeiner Universität bekommen. Er war ihm von der Regierung Preußens für seine wissenschaftlichen und unternehmerischen Leistungen verliehen worden. In erster Linie für den Aufbau und die Leitung seines Unternehmens. Die Firma Kelter war vielen ein Begriff , wie man sagt. Woran denken wir etwa beim Namen Zeiss? Natürlich an eine herausragende Produktion. Das schon. Aber in Massen . Objekte, die individuelle Lösungen erforderten, ultrapräzise und gleichzeitig großformatige Gegenstände, wissenschaftliche Ausrüstung, aber nicht nur, sondern Geräte, die sowohl in der Astronomie als auch beim Militär Verwendung fanden, Sie verstehen, wurden bei ›Kelter‹ in Auftrag gegeben. Zahlenmäßig waren wir kein großes Unternehmen. Aber in der Branche trotzdem sehr angesehen. Einhundertfünfzig Angestellte. Einige davon herausragende Ingenieure. Die präzisesten Kärger-Drehbänke zum Schleifen und Polieren. Hinter den Maschinen die erfahrensten Meister. Und an der Spitze mein Vater. Mit allen per Du. Er war nach Amerika gereist und hatte seine preußische Steifheit abgelegt. Weshalb ihn sogar Arbeiter, gestandene Sozialdemokraten duzten. Das will was heißen. Ich kann Ihnen versichern: eine großartige patriarchale Stimmung, ganz im Geiste der alten Berliner Gesellschaft. Gebildete Techniker und fähige Arbeiter, Hand in Hand, eine Arbeiteraristokratie, würde ich sagen. In der Tat: Das wäre Stoff für einen Roman! Aber ich bitte um Verzeihung. Sie kommen ja von drüben . Es dürfte Sie nicht interessieren, welche Vorbilder es im Bereich der Industrieorganisation irgendwo auf der Welt vor Ihrem Lenin gab.«
Читать дальше