Herr Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag hat mit großer Geduld an diesem Projekt festgehalten und es schließlich in der nun vorliegenden Form auch möglich werden lassen.
Kiel, im September 2021
Volker Kraft
Wer ein Studium beginnt, hat in der Regel zunächst einige Mühe, sich in dem jeweiligen Fach zu orientieren und zurechtzufinden. Das ist nichts Besonderes. Allerdings: Fächer unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Lehrbarkeit wie auch ihrer Lehrgestalt, und sie organisieren das Studium auf unterschiedliche Weise. Die Pädagogik gehört zweifellos zu den »weichen« Fächern. Das hat für Studierende mancherlei Vorteile. Es hat aber auch Nachteile, denn gerade in »weichen Fächern« ist es nicht leicht, sich angesichts der Vielfalt der Themen und Fragestellungen verlässlich zu orientieren. Schaut man einmal in Vorlesungsverzeichnisse pädagogischer Fachbereiche oder Institute, kann man durchaus den Eindruck gewinnen, als hätte sich Jean Paul als Curriculumkonstrukteur nachhaltig in Szene gesetzt, denn in der Vorrede zu seiner 1806 erschienenen Schrift »Levana oder Erziehlehre« heißt es: »Über die Erziehung schreiben, heißt beinahe über alles auf einmal schreiben.« Dieses »irgendwie alles auf einmal« dürfte eine einschneidende Erfahrung vieler Studierender sein, die sich für ein Studium der Pädagogik entschieden haben.
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich hat auch die Pädagogik ihre Ordnungen, die den Gang des Studiums in den unterschiedlichen Ausrichtungen des Faches festlegen und vorschreiben. Und gerade durch jenen Reformprozess, der mit dem Namen einer italienischen Universitätsstadt geschmückt ist, verstärkt sich der Eindruck, als sei nun alles bestens geordnet, in tabellarischen Übersichten und Kombinationstabellen, in Pflicht-, Wahl- oder Wahlpflichtmodulen. Diese äußere Gestalt des Faches soll hier nicht weiter behandelt werden. Gleichwohl lässt sich der Frage nicht ausweichen, in welcher Weise äußere Organisation des Studiums und innere Struktur des Faches miteinander verbunden sind. Nimmt man die innere Struktur in den Blick, kommt zumindest dreierlei zum Vorschein:
Erstens orientiert sich die Lehrgestalt wesentlich an der gegenwärtigen Struktur der Erziehungswissenschaft als Disziplin, nicht aber an Erziehung als einem Phänomen eigener Art und den damit verbundenen Möglichkeiten und Grenzen erzieherischen Handelns, kurzum: die »Reflexion über Erziehung« scheint im Mittelpunkt zu stehen, nicht aber »das Erziehen« selber. 1 1 Vgl. dazu das »Kerncurriculum Erziehungswissenschaft« (DGfE 2008), das als Grundlage vieler Studienordnungen dient.
Zweitens fehlt es an einer Systematik, die es erlaubte, die Vielfalt der Themen und Fragestellungen so aufeinander zu beziehen, dass erkennbar wird, was diese miteinander verbindet, voneinander unterscheidet und was sie von den Zugriffsweisen anderer Disziplinen trennt. Es mag zudem gelegentlich der Eindruck entstehen, als wäre das Fach an einem Studienort ein anderes als an einem anderen. Drittens, und in unmittelbarem Zusammenhang damit, bleibt offen, wie sich das Studium aufbauen soll, was also die Grundlagen des Faches ausmacht, die zuerst studiert werden müssen, und was dann als Erweiterung oder Ergänzung, als Vertiefung oder Modifikation, danach und darauf aufbauend folgen soll. So gewinnen Studierende vielfach den Eindruck, als müssten sie eben »irgendwie alles auf einmal« studieren, ein Umstand, der durchaus geeignet ist, die Studierlust spürbar zu untergraben und der damit das Fach selbst in den Köpfen schwächt, die sich ihm aufgeschlossen, voller Neugier und mit häufig bewundernswertem Engagement zuwenden.
Natürlich gibt es für diesen Zustand Gründe, die weit in die Geschichte der Pädagogik zurückreichen und sehr eng mit den Besonderheiten ihrer Entwicklung als Disziplin in Zusammenhang stehen (vgl. Keiner 1999; Kraft 2004). Dem wird hier nicht weiter nachgegangen. Man kann aber auch sehen, dass die Pädagogik äußerst einfallsreich ist, ihre systematischen Schwächen zu kompensieren. Auf der Außenseite des Faches geschah dies lange Zeit, immer wieder und geschieht immer noch, durch eine enge Bindung an (Bildungs-) Politik. Das soll hier keine Rolle spielen. Auf der Innenseite des Faches hingegen, und um die geht es hier vor allem, werden systematische Defizite unter anderem durch die fortgesetzte Produktion von immer neuen Enzyklopädien, Lexika, Handbüchern und Einführungen auszugleichen versucht, so, als ahnte man, dass es besonderer Anstrengungen bedürfe, um die Lehrbarkeit der Pädagogik zu sichern.
Auch dieses Buch ist als einführender Text angelegt, wiewohl ihn einige Besonderheiten auszeichnen, die ihn von anderen Einführungen unterscheiden. Denn es geht hier weder um eine Einführung in die Pädagogik insgesamt noch um eine Einführung in eine spezielle Untergliederung des Faches, also z. B. in die Schulpädagogik, die Erwachsenenbildung oder die Sozialpädagogik. Auch geht es nicht um spezifische thematische Zusammenhänge wie z. B. »Erziehung und Geschlecht«, »Pädagogik und Religion« oder »Generation, Erziehung und Bildung«. Vielmehr geht es um die Einführung in eine spezifische Art und Weise, pädagogisch zu denken. Auf den ersten Blick scheint diese Zielbestimmung weder neu noch besonders originell, denn natürlich hat die Geschichte pädagogischen Denkens etliche Schriften dieser Art hervorgebracht. Was soll da noch Neues oder Überraschendes kommen? Warum noch ein weiteres Buch zu diesem Thema, warum noch einmal die alten abgenagten Knochen beschreiben? Wiewohl erst nach der Lektüre zu ermessen ist, ob sie sich denn gelohnt hat, wird im Folgenden der Versuch gemacht, die Leserinnen und Leser dafür zu gewinnen, der hier entfalteten Perspektive des Autors zu folgen.
Erziehung ist ein komplexes Phänomen, und als solches kennt es zunächst weder Fach-, Disziplin- oder Professionsgrenzen. Es ist daher kein Wunder, dass es in verschiedenen Wissenschaften zum Thema wird. Entweder geschieht dies dort in eigenen Gebieten, z. B. in der Pädagogischen Psychologie, der Pädagogischen Soziologie oder der Pädagogischen Anthropologie. Oder Erziehung wird im Zusammenhang zentraler Fragestellungen eines Faches zum Thema, wie z. B. in der Philosophie; oder sie wird, meist didaktisch gewendet, zu einem speziellen Anwendungsfall und kommt dann, wie in der Theologie, als »Religionspädagogik« wieder zum Vorschein. Jede wissenschaftliche Disziplin bearbeitet einen bestimmten Weltausschnitt nach Maßgabe ihrer jeweils leitenden Grundbegriffe und methodischen Möglichkeiten, die beide ihre jeweiligen Grenzen markieren. Ein Phänomen ist allerdings etwas anderes als der wissenschaftliche Zugriff hierauf. Nur in der Erziehungswissenschaft dient Erziehung als Grundbegriff, nur hier ist er zentral. Das wiederum hat zur Folge, dass der Erziehungswissenschaft die Aufgabe gestellt ist, ihren Begriff von Erziehung so zu schärfen, dass er von der Art und Weise, wie in anderen Disziplinen darüber gehandelt und geforscht wird, deutlich zu unterscheiden ist. Man könnte es auch so sagen: In der Pädagogik muss über Erziehung »irgendwie anders« gedacht und gesprochen werden als in anderen Disziplinen, denn sonst bräuchte es sie nicht zu geben, sie wäre schlicht überflüssig und verzichtbar.
Schon der einfach anmutende Satz »Der Grundbegriff der Erziehungswissenschaft ist Erziehung« ist innerhalb der Disziplin nicht unumstritten und vermag unverzüglich heftige Debatten auszulösen, wie auch die Stellung der Pädagogik zu anderen Wissenschaften aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Für die hier verfolgten Zwecke soll er gleichwohl als Ausgangspunkt genommen werden. Denn nur dann lässt sich die Anschlussfrage formulieren: Wie begründet die Erziehungswissenschaft ihren Grundbegriff? Die einfachste Antwort lautet wohl: auf ganz verschiedene Weisen. Man kann, um einige Beispiele zu nennen, Erziehung aus der Evolution der Gattung her begründen, die ohne sie gar nicht denkbar ist; oder aus der Anthropologie, die die Sonderstellung des Menschen zum Thema hat; oder aus der Philosophie, indem man nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung überhaupt fragt; oder aus der Ethik, die Werte und Normen in den Mittelpunkt rückt; oder aus der besonderen Funktion der Erziehung für Kultur und Gesellschaft. Diese Aufzählung denkbarer Perspektiven ließe sich noch erweitern, und dass sie alle ihre Berechtigung haben, ist nicht zu bestreiten. Nur: gibt es nicht noch eine einfachere Form der Begründung, eine solche also, die so dicht wie möglich am Phänomen anschließt, ihm gleichsam anhaftet? Die basale Begründung des Erziehungsbegriffs, so lautet die Antwort auf diese rhetorische Frage, findet sich in der Erziehung selbst, genauer gesagt in den Praktiken des Erziehens und in den Formen, in denen diese Gestalt gewinnen. Kurzum: das Erziehen selber liefert die Grundlage für den Begriff der Erziehung.
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