Cora, sagt sie beim Ablegen der Zeitschrift und des Stoffballens. 1946, mein Hochzeitsjahr. Aber für mich ist 1946 zuerst Coras Jahr – Im Netz der Leidenschaften –, und natürlich auch das Jahr von Gilda . Weit dahinter erst kommt meine Hochzeit. Seltsam, aber so ist das eben. Cora Smith ist Lana, Lana Turner. Schauen Sie, sagt sie und schlägt die Zeitschrift auf: Kleid aus weißem Krepp mit Schlüssellochkragen, kleiner Halsschleife, Taillengürtel über Tasche mit Ziernähten.
Ihre Beschreibungen stützen sich stets auf die Bildunterschriften, die sie übersetzt und auswendig gelernt hat. Sie verleiht ihnen Rhythmus, betont sie, spricht sie artikellos, wie abgefeuerte Salven. Es wäre ihm lieber, wenn sie weniger schwatzte und Maria sprechen ließe, aber sie macht weiter: In diesem Jahr wollten wir uns alle wie Cora anziehen, sogar ihren Badeanzug wollten wir, sehen Sie nur, wie wunderbar! Endlich äußert sich Maria: Das ist Sportkleidung, sagt sie kritisch. Stimmt schon, aber ist das nicht schick? Die Geschichte spielt in Kalifornien, und bei uns war es auch ein bisschen wie in Kalifornien, stellen Sie sich mal vor, was los war, als der Film angelaufen ist. In Filmen sind Schauspielerinnen selten gebräunt, und als wir Lana dann gebräunt in diesen so weißen Kleidern gesehen haben … Also wenn Sie mich fragen, ist diese Kleidung unsittlich, befindet Maria.
Pepito richtet sich auf, dreht sich zu ihm, der flüchtig die Augen öffnet. Die schweren Lider fallen ihm sofort wieder zu. Maria ist die Anstandsdame seiner Mutter, so, wie Pepito seine ist, im Viertel trennt sie die Spreu vom Weizen, erspart ihr unnützen oder heiklen Umgang. Ihm ist bewusst, dass die Eitelkeit seiner Mutter sich bisweilen durchsetzen kann, nach der Schule etwa, wenn sie ihn ganz in Schale geworfen abholen kommt, als wäre sie auf dem Weg zu einer Feierlichkeit, einem Fest, ihre Füße in Sandalen beim geringsten Sonnenstrahl, stets zu früh im Vergleich zu den anderen Müttern.
Als sie eines Nachmittags mit Maria vor dem Gitterzaun wartet und ein blaues Gürtelkleid trägt – das Maria mit dem Stolz der Ausstatter- und Kunsthandwerkerin betrachtet, stets versucht, eine Knitterfalte zu glätten, einen Abnäher zu korrigieren –, ist der Schuldirektor ihm und Pepito einen Schritt voraus und postiert sich vor den beiden Müttern. Senkt er plötzlich den Blick, weil sie schon kommen? Den nackten Beinen ausweichend, taucht er hinab zu den perlmuttschimmernden Zehennägeln in den blauen, zum Kleid passenden Sandalen. Für einen Moment ziehen die Fußspitzen seiner Mutter sämtliche Blicke an, bündeln sie, den Blick des Direktors, seinen, Marias, vielleicht Pepitos. Alle sind befangen, seine Mutter indessen redet weiter, wird immer mitteilsamer, ohne den Blick zu senken oder auch nur hinzusehen. Der Direktor klammert sich an ihre leichte, unbeschwerte Stimme und lässt den Blick wieder hinaufwandern, erregt, verwirrt, sekundenlang unfähig, sich zu beruhigen und den Faden seiner Lobrede wieder aufzunehmen, die er wie immer auf eine so glänzende, vorbildliche Schullaufbahn gehalten hat, ganz gleich, in welchem Fach. Auf dem Rückweg erklärt Maria, es sei noch zu kühl, um Sandalen zu tragen. Seine Mutter bestreitet das und fügt hinzu, dass diese arme Kim Novak welche anziehen wollte, um das graue Kostüm aufzulockern, das Hitchcock ihr in Vertigo aufzwang, doch Hitchcock lehnte rundweg ab und bezeichnete sie als schamlos. Ohne es deshalb gleich leid zu sein, begreift Maria abermals, dass sie nur scheinbar eine Anstandsdame ist und keinerlei Autorität genießt, nie auch nur eine dieser Eitelkeiten unterbinden wird, die sie verzweifeln und zugleich wahre Wunder vollbringen lassen.
Seit der Geburt seiner Schwester kommt sie nicht mehr an den Gitterzaun, aber sobald die Kleine laufen kann, verspricht sie, werde sie wieder da sein, um dem Lobgesang zu lauschen.
Übertreiben Sie nicht immer gleich, Maria! Ich finde Coras Sachen fantastisch. Vor allem dieses Kleid, mein liebstes. Ihr Handrücken klatscht auf die Zeitschriftenseite. Pepito und er wissen, dass die nun folgende Stille Marias Bedenkzeit ist, während der sie mit gekräuselter Stirn, gekräuselter Nase das Modell erneut beurteilt. Aber warum gibt es nur eine einzige Tasche?, fragt sie, zumal so groß und direkt am Gürtel … seltsam … wirklich seltsam … sieht fast aus wie eine Kellnertasche, ein ganzer Kellnerblock fände Platz darin. Eben, Cora ist Kellnerin! Sie haben wirklich ein gutes Auge, Maria!, ruft sie, aber ich glaube ja, dass in dieser Tasche nur ihr Lippenstift einen Platz hat … Genau das meine ich, beharrt Maria … Ihm und sogar Pepito wäre es lieber, wenn Maria ihre scharfsinnigen Urteile für sich behielte – obwohl es Pepito nicht unlieb ist, wenn sie ihre unterwürfige Zurückhaltung ablegt –, aber sie wiederholt das Wort »schamlos«. Seine Mutter kränkt es eher, mit einer Kellnerin verglichen zu werden als mit einer schamlosen Frau, und so bekräftigt sie: Die MGM hat all das Weiß verwendet, um die Sündhaftigkeit der Heldin herunterzuspielen, immerhin hat sie ja nicht Lana Turner selbst, sondern ihre Tochter des Mordes bezichtigt. Maria schweigt. Denken Sie, was Sie wollen, ich will genau das gleiche, spricht sie entschieden weiter. In Weiß? Ja, in Weiß. Haben Sie sich denn auch etwas zuschulden kommen lassen?, fragt Maria. Weil es in Rosa oder Grau schon weniger nach Kellnerin aussehen würde … Für Schwarzweiß spielen die tatsächlichen Farben sowieso keine Rolle, sagt Maria noch, der langsam die Argumente ausgehen. Man erhält grau, beige oder sogar rot, wenn man man weiß in Tee oder Kaffee tunkt. Woher wissen Sie das alles, Maria? So was weiß man eben im Schneiderhandwerk. Pepito bewegt sich neben ihm, behutsam, die Brust vor Stolz leicht geschwellt. Arbeitet deine Mutter wirklich als Schneiderin?, fragt er. Wem außer meiner Mutter schneidert sie denn noch Kleider? Zig anderen Frauen. Er fragt weder nach Namen noch nach Zahlen, glaubt, dass Pepito wichtigtut. Tee oder Kaffee! Und was ist mit Jezebel , als Bette Davis auf ihrem Ball mit rotem Kleid erscheint, anstatt Weiß zu tragen wie alle anderen Debütantinnen, meinen Sie, sie trägt da ein weißes, in Kaffee getunktes Kleid? Kann schon sein, stammelt Maria. Das ist furchtbar ungerecht, weil Henry Fonda sie deswegen ablehnt. Ich mag gar nicht daran denken, eine so große Schauspielerin, gezwungen, in einem schmutzigen, besudelten Kleid zu spielen, das noch dazu klatschnass ist … Andererseits ist mir das vielleicht sogar lieber, in Technicolor hätte ich Bette Davis ungern in einem echten roten Kleid gesehen … Ein Grund mehr, warum ich ein reines, unbeflecktes Weiß will; ich wüsste ja gern, was Sie gegen diese Farbe haben. Nichts, aber Weiß ist eine Farbe für junge Frauen. Aber ich bin eine junge Frau, Maria!, ruft sie mit schriller Stimme. Als der Film 1946 anläuft, bin ich noch nicht mal verheiratet. Also, wie viel Zeit brauchen Sie? Mein Mann sagt, wenn sie den Krieg gewinnen, werden wir das feiern, ich muss also bereit sein. Ein Krieg kann dauern, den gewinnt man nicht einfach so, murmelt Pepito. Die Ziernähte, betont Maria, sind viel Arbeit. Ich frage mich ja, ob man nicht doch zwei Taschen bräuchte, zögert seine Mutter. Dann wird es noch mehr Arbeit, antwortet Maria. Nein, das geht nicht, es muss wirklich sehr schnell gehen. Dann gehen Sie eben in ein Geschäft!, sagt Maria ärgerlich. Auf gar keinen Fall!, ruft sie entrüstet, drüben kam unsere Schneiderin um acht Uhr morgens, und um vier Uhr nachmittags war mein Kleid fertig. Ich zähle auf Sie, Maria, vier, fünf Tage, mehr nicht.
Dann fällt die Tür zu. Er schreckt auf. Bleib noch ein bisschen, sagt Pepito und legt eine Hand auf seinen Arm.
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