Sie hat alles aufgesammelt, alles sauber gemacht, die kalt gewordenen Spaghetti in die große Schüssel zurückgegeben. Sie serviert mit den gleichen behutsamen Gesten, als ob nichts geschehen wäre, obwohl er ihre Finger leicht zittern sieht. Die Kleine ist wieder auf dem Teppich, sie essen schweigend, sein Blick kreuzt den Blick seines Vaters, folgt ihm, verfolgt ihn bis zu den braunen Spuren auf dem weißen Kleid, und er denkt, dass die Soße sich mit einem Jabot noch viel stärker verteilt hätte, dass es viel schlimmer gewesen wäre, mit einem farbigen Stoff dagegen weniger. Keiner kommt auf den Ausdruck zurück, der um den Tisch schwebt, zwischen den Tellern, sich den Weg in seine Gedanken bahnt, sie gerinnen lässt, bis die sechs Silben verklumpen und rein gar nichts mehr bedeuten, Emotionalaschock , weder Szene noch Bild noch sonst irgendetwas erahnen lassen.
Am Fuß des Fernsehers plappert sie. Verstreut um sie herum liegen Würfel, Puppen, Spielzeuggeschirr. Sie schaut zum Fernseher auf, ihr Blick gleitet über die Silhouette des Generals, dem niemand zuhört, da er noch immer von England spricht. Sie greift nach einem roten Plastikbecher, führt ihn zum Mund, wirft den Kopf nach hinten. Er rutscht vom Stuhl hinunter, um sich neben sie zu setzen, nimmt sich einen eigenen Becher, den er sanft gegen ihren stupst. Sie stoßen an. Er sagt: Zum Wohl! Sie bricht in Lachen aus. Und noch einmal: Zum Wohl! Sie lacht und gluckst noch lauter. Ihr Glucksen reinigt den Raum vom Gezeter, von den Flecken. Ihre Mutter bückt sich – komm, Zeit zum Mittagsschlaf –, hebt sie auf wie ein Wäschebündel und verschwindet mit ihr im hinteren Teil der Wohnung.
Er bleibt auf dem Boden sitzen, hantiert mit dem Spielzeuggeschirr in der Hoffnung, dass seine Schwester protestiert, nicht schlafen gehen will, doch vom Flur aus dringt kein einziger Schluchzer zu ihm. Sein Vater rügt ihn schließlich, ein Junge in seinem Alter mit solchen Babyspielen, zumal für Mädchen, also wirklich!, und befiehlt ihm zusammenzuräumen. Langsam sammelt er die Einzelteile ein, will alles, nur nicht aufstehen und wieder seine volle Körpergröße annehmen. Erst als sein Vater sich in den Sessel setzt, richtet er sich auf, allerdings weit hinter ihm. Hast du denn heute keine Schule?, fragt er ihn, während er unverwandt auf den Fernseher starrt. Er lügt schamlos, ohne weitere Erklärung, da verkündet der General: »Nun zum Orient.« Sein Vater richtet sich im Sessel auf, und obwohl er dachte, sie würde nicht zurückkommen, tritt seine Mutter ins Zimmer, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, und wiederholt prompt, der Orient, der Orient, mit einer Spottlust, die ihr gar nicht ähnlichsieht. Erinnerst du dich an das Ende von Morocco ?, fragt sie und stellt den Kaffee auf den Couchtisch neben seinem Vater ab. Marlene Dietrich zögert lange, Gary Cooper in die Wüste zu folgen. Sie trägt ein Tulpenkleid und Stöckelschuhe. Er weiß nicht, wem all diese Ausführungen gelten, wo der General doch zu sprechen beginnt. Es war das Tor zum Orient, sagt sie. Sein Vater erwidert bloß, dass sie den Orient mit der Wüste verwechsle, und bittet sie zu schweigen. Nach der Szene am Mittagstisch will er keinen schärferen Ton mehr anschlagen. Sie schweigt, bleibt jedoch stehen und lächelt weiterhin. Sein Vater trinkt den Kaffee in kleinen Schlückchen.
Er nähert sich ihr, um leise zu fragen: Und? Was macht sie? Wer? Marlene Dietrich. Ah, na klar geht sie! Natürlich! Zunächst mit ihren beigen Stöckelschuhen, bestimmt aus schönstem italienischem Leder gefertigt. Sternberg nahm es mit seinen Kostümen sehr genau. Er hatte in einer Stickereiwerkstatt angefangen und widmete sich dem Kino, weil er sehr feine Finger hatte, die mit Filmstreifen genauso gut umgehen konnten wie mit Spitze. Dann zieht sie ihre Schuhe aus und folgt der Karawane. Sie lässt alles zurück, um in der Wüste Marketenderin zu werden. Das Bild ist immer noch hier drin, sagt sie und zeigt auf ihre beiden Schläfen: die herrlichen, in den Sand geworfenen Pumps, kurz davor, von den Dünen geschluckt zu werden, was für ein Jammer … Sie hält inne. Meinst du, sie hat die richtige Entscheidung getroffen oder die falsche?, fragt er. Sie legt den Zeigefinger auf ihre Lippen, deutet mit einer Kinnbewegung auf den Bildschirm, aber er ahnt, dass sie zögert, nicht weiß, welche Antwort sie ihm geben soll. Sie schweigt einige Sekunden, dann flüstert sie, in der letzten Filmszene packt die Dietrich energisch eine Ziege bei der Leine, und ballt zur Nachahmung die Faust. So, sagt sie lauter und zieht an einem unsichtbaren Strick.
Seid ihr endlich still!, knurrt sein Vater, ohne sich umzudrehen.
Sie müsse nach unten zu Maria, sagt sie. Nein, sagt er, bleib noch kurz, wagt aber nicht, ihr in die Augen zu sehen. Sie nickt und setzt sich aufs Sofa. Er nimmt links neben ihr Platz.
Er sollte sich freuen über diesen Moment, dem er seit Tagen entgegenfiebert, für den er alle belogen hat außer Pepito: Ich komme heute Nachmittag nicht, ich gucke mir den General an, sag einfach, ich sei krank, oder dass es wegen meiner Schwester ist, such dir was aus. Es ist seine erste Pressekonferenz, seit sie einen Fernseher haben. Ein Anflug von Neid flackert im Schokoladenblick seines Freundes auf, der zaghaft hinzufügt, ich könnte ja auch die Schule schwänzen und die Konferenz mit dir zusammen schauen. Schon sieht er Pepito neben sich sitzen, hinter seinem Vater, verschüchtert und zahm, und also erwidert er, gesetzt den Fall, du guckst mit, wer leiht mir dann seine Hefte, um den Stoff nachzuholen? Pepito wird wie immer unsicher, wenn er sich ungewohnt ausdrückt, was ihn zufrieden stimmt, weil diese Verunsicherung seinen Vorsprung bezeugt, das Ausmaß seines Wortschatzes.
Der General spricht ohne Notizen, ohne Teleprompter.
Er weiß, dass er seine Texte auswendig lernt, sich stundenlang in sein Arbeitszimmer einschließt und sie unermüdlich einübt. Sein Gedächtnis ist so beeindruckend wie seine Körpergröße, von klein auf trainiert unter Anleitung seines Vaters, einem Geschichts- und Lateinlehrer. Mal stellt er sich dieses Gedächtnis länglich vor, aufgehängt wie ein Gestirn im Inneren seines großen Körpers, mal als zirkulierende Flüssigkeit. Vielleicht hat er sogar einen Repetitor, jemanden vom Theater, der seine Sprechweise korrigieren kann, seinen Rhythmus, seinen Umgang mit stummen Konsonanten, damit er sich genauso tadellos ausdrückt wie ein französischer König. Ein Staatschef muss sein Volk überragen, durch die Bauten, die er errichten, die Medaillen, die er prägen, und die Reformen, die er verabschieden lässt, doch genauso muss er sich durch gewandte Reden hervortun, die er vor laufenden Kameras hält, denkt er eng an seine Mutter geschmiegt, um kurz darauf zusammenzuzucken.
Was ist los mit dir?, fragt sie.
Sie haben es nicht gehört. Sie können es unmöglich nicht gehört haben, denkt er Schlag auf Schlag.
Dem General ist ein Velours unterlaufen, sagt er mit kaum hörbarer Stimme. Sein Vater dreht sich abrupt um. Sein Kopf, seine Arme, sein ganzer Körper bringt die Luft zum Zischen. Mit der Hand ist er gegen die kleine Kaffeetasse gestoßen, hat sie umgeworfen. Seine Mutter will sie schnell aufheben, doch er macht eine Geste, bedeutet ihr zu bleiben, wo sie ist. Aber der Teppich …, protestiert sie. Die braune, körnige Substanz läuft auf das grüne Muster, wird in Sekundenschnelle aufgesogen. Sie setzt sich wieder, ohne den Fleck aus den Augen zu lassen. Was hast du gesagt?, fragt sie. Dem General ist ein Velours unterlaufen, er hat einen Konsonanten gesetzt, wo keiner hindarf. Spricht man ein S , wo keins hingehört, heißt das Velours – wie der samtige Stoff –, erklärt er. Setzt man fälschlicherweise ein T , wie z. B. »il va-t-à la plage«, statt einfach »il va à la plage«, nennt man das hingegen Cuir – Leder. Seine Mutter schielt mit zusammengekniffenen Augen zum braunen Fleck auf dem grünen Teppich, froh, nichts unternommen zu haben, denn die zwei Farbtöne vermischen sich langsam. Sie wiederholt mechanisch die Wörter Velours und Cuir , als kämen sie ihr zum ersten Mal über die Lippen. Warum Schneiderbegriffe? Man sagt Velours , weil es weicher ist als Leder, und deshalb heißt der Konsonantenfehler, der für unsere Ohren am härtesten klingt, auch Cuir . Sie blickt ihn verständnislos an. Er setzt neu an: Cuir bedeutet, dass man ein T setzt, wo keins hingehört. Man sagt Cuir , weil man die Sprache entstellt, ihr geradezu die Haut herunterreißt, aber das hier war weicher, also ein Velours : »ce qu’ils avaient-s-été de tout temps« statt ce qu’ils avaient été de tout temps – was sie von jeher waren.
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