Sie kommt im September zur Welt, und als sie acht Monate alt ist, erklärt er stolz, dass sie ihren ersten Frühling erlebt. Etwa zur selben Zeit fällt ihm die merkwürdige Stellung auf, die ihr rechtes Bein einnimmt, wenn sie sich in den Schneidersitz setzt. Tagelang verliert er kein Wort über das, was er sieht, doch wenn er an ihr vorbeigeht, bückt er sich, um das Bein zu richten, als stellte er einen Gegenstand neu auf, der ständig in sich zusammenfällt. Er achtet darauf, seine Geste rein mechanisch auszuführen, frei von Sorge, fast schon wie einen Gag, und schafft es sogar, nicht länger verwundert zu wirken. Und doch hofft er jedes Mal, der Aufwand möge sich lohnen, das Bein so bleiben, das Problem endgültig behoben sein. Zuerst geht er ganz sachte vor, dann gröber, als wolle er sichergehen, dass sie keinerlei Schmerz verspürt, dass diese Stelle ihres Körpers frei von Leiden ist. Irgendwann wundert sich seine Mutter, was machst du da? Ich richte ihr Bein, aber … Aber was? Schon seltsam, es knickt immer wieder weg … Der Blick seiner Mutter verfinstert sich: Zu ihrer früheren, unausgesprochenen Befürchtung kommen prompt weitere hinzu, lassen sie nicht länger denken, dass sie die Einzige sei, die sich zu viele Gedanken mache, sodass die Einsamkeit der Bangnis weicht.
Und dann ist es wie ein Lauffeuer, für das er sich verantwortlich fühlt: das Wort seines Vaters, das er am liebsten vom Tisch fegen würde, stimmt, sagt dieser mit hochgezogenen Augenbrauen, dann Pepito, der betont, dass kein anderes ihm bekanntes Baby sich so hinsetze, oder Maria, die vorschlägt, einen Gegenstand zwischen die Beine der Kleinen zu legen, um zu sehen, was passiert. Sodass er es schließlich vorzieht, sie so oft es geht auf den Bauch oder Rücken zu legen, um eben nichts zu sehen. Doch je größer sie wird, desto öfter bleibt sie sitzen. Ihre Mutter freut es, der Rücken entwickle sich. Er stellt sich vor, wie sich unter ihrer Haut eine weiße Koralle ausbreitet, sich verzweigt; er muss sie wachsen lassen, darf sie nicht zerdrücken.
Ohne es aussprechen zu wollen, schraubt die ganze Familie in den nächsten Monaten ihre Ambitionen zurück, und hofft bald nicht mehr, dieses Baby im lauffähigen Alter möge endlich seine ersten Schritte tun, sondern nur noch, dass sein rechtes Bein in der Sitzposition nicht mehr nach innen rotiert. Ein Zurückschrauben, das als Geduld durchgehen könnte oder als schlichte Anpassung an die Wirklichkeit, und doch in einen einzigen besorgten Seufzer mündet.
Am 27. November 1967 – die Konferenz fängt gleich an, sein Vater kann es kaum erwarten – bereitet seine Mutter gerade das Mittagessen vor, als sie verkündet: Ich war heute Morgen beim Arzt. Warst du so angezogen?, sagt sein Vater prompt. Ja, natürlich, gefällt dir das Kleid nicht? Gloria Grahame trug dieses Modell in The Bad and the Beautiful . Oder war es in Human Desire ? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls standen ihr die Kleider, obwohl sie so böse aussah: Nur ein paar Millimeter mehr Fleisch und es wäre ganz anders für sie gekommen, hier, über dem Mund, auf der Oberlippe, schon seltsam, dass sie nicht operiert wurde, obwohl sie doch sonst alle operieren ließen. Und sie tritt aus den Dämpfen der Küche hervor, wo Wasser sprudelnd in einem Topf kocht, geht ins Wohnzimmer zu dem kleinen Möbelstück, in das sie ihre Zeitschriften einsortiert hat; sie kniet sich nieder und sucht nach der Ausgabe, die sie Maria bei der Bestellung des Kleids hingehalten hat. Sie hasst es, wenn sie ihre Erinnerungen durcheinanderbringt, wenn sie ins Zweifeln gerät; sie zückt sie viel lieber hervor, ganz klar und deutlich, als könnte sie mit bloßer Willenskraft deren Existenz und Beständigkeit garantieren, sodass diese Erinnerungen die Macht hätten, Gloria Grahame direkt vor ihnen im Raum in Erscheinung treten zu lassen.
Von drüben hat sie nicht viel mitgebracht, ein paar Kleidungsstücke, ein paar Gegenstände, ihren Stapel Photoplays . Oft bittet er sie, diesen Moment zu beschreiben, als die Koffer gepackt werden mussten, will von ihr ganz genau wissen, wie man sein Haus aufgibt, seine Heimat, was man letztlich mitnimmt, was man zurücklässt, welchen Blick man auf seinen Sachen ruhen lässt, wie viel Zeit man zur Verfügung hat, um diese Auswahl zu treffen. Er klammert sich an die Tatsache, dass seine Mutter damals schwanger war, weil er sie selbst schwanger erlebt hat, an die Rundung ihres Bauchs, an ihre Art, beschwert zu sein – er will sich die Szene lebhaft vorstellen, ein Bild fixieren, denn auf seine Fragen antwortet sie stets ausweichend oder wiederholt genervt, was weiß ich, ich erinnere mich nicht mehr! Manchmal ändert er die Strategie und spricht in der Gegenwartsform von einer konkreten praktischen Handlung, wie nimmst du zum Beispiel deine Zeitschriften mit? Sie verbringt mehrere Stunden damit, sie zu sortieren. Und wenn er merkt, dass sie anbeißt und ebenfalls in der Gegenwart antwortet, fährt er fort. Wie viele? Zwei, drei Stunden oder mehr? Sie kann sich nicht genau erinnern. Was fühlst du? Nur Unmut, denn sie muss nach Titelseite auswählen, und zwar schnell, zwischen Olivia de Havilland und Joan Fontaine, Bette Davis und Joan Crawford, die ohnehin schon in solcher Feindschaft leben, während sie doch am allerliebsten schwankt zwischen beiden, mal die eine, mal die andere vorzieht, je nach Film, nach Rolle, nach Gerücht, das gerade im Umlauf ist. Und wie gehst du dann vor? Weil ich keine Zeit habe, die Zeitschriften durchzublättern, entscheide ich wie gesagt nach Titelseite, ich spule die Bilder ruckzuck im Gedächtnis ab, die Ehemänner, die Kleider, die Frisuren, alles. Wie viele nimmst du mit? Ich musste einen Großteil zurücklassen, vielleicht die Hälfte, wer weiß, zum Zählen war keine Zeit, ich konnte nur zwischen zwei Stapeln wählen. Die Zeitschriften, die sie mitnimmt, schnürt sie fest zusammen, stellt sich vor, wie sie mit ihrem kleinen Papierbündel über die Meere fährt und sich bei Schiffbruch daran klammert, ihre Finger am Knoten der Schnur festkrallt. Die Zeitschriften, die sie nicht mitnimmt, hat wahrscheinlich jemand verbrennen lassen, sie weiß es nicht. Plötzlich tränen ihre Augen, und er kann nicht sagen, ob sie an den Rauch denkt oder traurig ist. Obwohl sie von seiner Fragerei erschöpft sein müsste, fährt sie fort. Dein Vater kaufte mir meine Photoplays . Gern sah sie ihn einmal im Monat mit der neuen Ausgabe unterm Arm heimkommen, die sich, kaum war er über die Türschwelle getreten, schon in ihren gierigen, ungeduldigen Händen befand, die alles stehen und liegen ließen, um durch die Seiten zu blättern. Sie verschlang die Fotos, die Bilder, die Werbung, las die Bildunterschriften laut auf Englisch vor. Und wenn sie die Ausgabe selbst besorgen wollte, zusammen mit den übrigen Einkäufen, lehnte er rundweg ab, bestand darauf, diesen Kauf von den anderen Käufen zu trennen, er wollte ihre Träume nähren, ohne diese durcheinanderzubringen oder auch nur anzutasten, denn jedes Mal legte er den Gegenstand mit demselben Kommentar auf den Tisch, hier, deine Zeitschrift, ich weiß wirklich nicht, wie du so was lesen kannst, wo es doch so viele Probleme auf der Welt gibt, was sie mit einem Lächeln quittierte, einem entzückten, begierigen, überlegenen Lächeln.
Monat für Monat wächst der Stapel an, bis er einen wackeligen Turm bildet, und so reiht sie die Zeitschriften schließlich horizontal auf, um bestimmte Nummern hervorziehen zu können, ohne dass alles zusammenstürzt. Und als die Schneiderin der Familie ihr vorschlägt, nicht die ganze Zeitschrift mitzubringen, sondern nur die betreffende Seite herauszureißen, protestiert sie und schwört sich, eine solche Schmach niemals hinzunehmen. Er wundert sich über ihre Ausdrucksweise, unterbricht sie aber nicht.
Читать дальше