Diese zweite Tochter schien alle Erwartungen des Vaters zu übertreffen, intellektuell und charakterlich: »Gibt es eine schönere Wesensart, einen kostbareren Charakter als den ihren? Kann man mehr Reinheit, Einfachheit und Kraft zugleich besitzen? Man brauchte ihr gegenüber weder Nachsicht noch Strenge zu üben. Man musste nur gerecht sein.« Er vermisste bei ihr die typisch weibliche Eitelkeit, die Zeit war ihr zu kostbar, um sie mit Äußerlichkeiten zu verlieren: »Ich glaube bemerkt zu haben, dass die Zeit, die sie bei einer sorgfältigen Toilette verlieren musste, ihr diese gleichgültig machte. All ihr Glück lag in der Lektüre, besonders der von Versen, und in der Musik, die sie leidenschaftlich liebte.«
Grétry vermeinte ein gesundes Gegengewicht zu diesem einseitigen Glück zu schaffen, indem er Lucile mit einem jungen Mann, einem ausgezeichneten Musikliebhaber, verheiratete. Er erlebte eine bittere Enttäuschung. Der allzu streng erzogene junge Mann fand es normal, jetzt seine Frau zu tyrannisieren. »Für ihn war es nur natürlich, seine Frau so zu behandeln, wie er selbst behandelt worden war. Er zerriss das Herz, in dem er hätte herrschen sollen; zwei kummervolle Jahre brachten sie ins Grab.« Was Gretry hier so pauschal und ohne Einzelheiten darstellt, als die seelische Folge einer unglücklichen Ehe, war andrerseits auch bedingt durch die Tuberkulose, von der alle seine Töchter befallen wurden und der sie alle im fast selben Alter erlagen.
Antoinette – »Wofern du nur lebst! Wofern du uns nur bleibst!«
Nach dem frühen Tod der beiden Ältesten hatten die Eltern nur noch einen Gedanken und eine Sorge: wie sie ihr jüngstes Kind vor demselben Schicksal bewahren könnten. Bei der geringsten Unpässlichkeit, die das Kind befiel, gerieten sie in Panik. Antoinette aber versuchte, ihre Befürchtungen zu zerstreuen und benahm sich bisweilen übermütig und forciert lebensfroh: »Oft lächelte sie über unsere übertriebene Fürsorge und machte absichtlich einige Streiche, einen Fehler, um unsere übergroße Sorgfalt zu mäßigen.« Vor ihren Eltern verbarg sie auch rücksichtsvoll, wie sehr sie selbst durch den Verlust der Schwestern erschüttert war, und bemühte sich stattdessen, ihren Schmerz durch allerlei Vernunftgründe zu lindern. Über den Tod Luciles äußerte sie sich folgendermaßen: »Tröstet Euch … indem Ihr Euch vor Augen haltet, dass der Tod den schweren Leiden, die die Ehe ihr bereitete, ein Ende gemacht hat.« Grétry kommentiert: »Ich fühlte die Wahrheit dieser traurigen Überlegung, und mein Herz antwortete ihr ganz leise: »Wofern du nur lebst! Wofern du uns nur bleibst! Dann werden deine Mutter und ich noch einige schöne Tage haben.«
Ihre Erziehung war schonend, frei und wenig anspruchsvoll: »Ich bat unsere liebe Antoinette, sich mit keinerlei Wissenschaft zu beschäftigen, die sie anstrengen könnte. Ich beschwor meine Frau, sie ganz frei nach ihren Wünschen handeln zu lassen.« Sie war »schön wie die Morgenröte«, als einzige Tochter eines wohlhabenden Vaters eine gute Partie, so dass es nicht an Bewerbern fehlte, aber Antoinette war durch das schreckliche Beispiel ihrer Schwester allzu ernüchtert worden und wies jeden »Kavalier« zurück. So liest man wenigstens in den »Memoiren«. Tatsächlich verlobte sie sich mit Nicolas Bouilly, dem nachmaligen Librettisten des »Fidelio«, der einzigen Oper Beethovens.
Als sie im Frühling den Wunsch äußerte, nach Lyon zu reisen, wo sie schon einmal in glücklicheren Tagen gewesen war, willigten die Eltern sofort ein und fuhren mit ihr zur Ablenkung nach Lyon. Grétry erwog sogar den Plan, solange auf Reisen zu bleiben, bis ihre Tochter das gefährliche Alter hinter sich hätte, in dem sie die beiden ältesten Töchter verloren hatten. Bereits im Herbst desselben Jahres kündigte sich die Katastrophe an: Antoinette verlor ihren Frohsinn und nahm fast keine Nahrung mehr zu sich. »Ohne zu wagen, uns unser Entsetzen mitzuteilen, beobachteten wir sie unablässig. Schliesslich nahm ich meine Frau beiseite und sagte: ›Du siehst, dass deine Tochter …‹ und allein bei diesen Worten wurde sie von eisiger Kälte erfasst, und ihre und meine Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten. Ein Strom entfloss unseren Augen, während wir uns fest umarmt hielten, ohne uns das Schreckliche unseres Schicksals erklären zu können …« Man beschloss, bald nach Paris zurückzukehren. Antoinette machte sich keine Illusionen über ihre Lage, aber sie war so selbstlos, nur an das Wohlergehen ihrer Eltern zu denken: »Von diesem Zeitpunkt an bis zum letzten Augenblick ihres Lebens beschäftigte sich dieses liebe Kind nur noch damit, uns von der Vorstellung, sie zu verlieren, abzubringen. Es war offensichtlich, dass sie nicht danach trachtete, sich selbst zu beruhigen; erst von da an begann sie uns von ihrer Zukunft, ihrer Hochzeit, ihren Kindern zu reden, die uns, wie sie sagte, so liebhaben würden wie sie selbst. Und ich merkte wohl, dass sie nur dann so sprach, wenn sie unserer Traurigkeit gewahr wurde, die zu verbergen wir nicht täglich die Kraft hatten.«
In Paris kaufte sie sich ein elegantes Kleid und ging damit zu einem Ball. Rouget de l’Isle, der Autor der Marseillaise, machte dem »glücklichen« Vater Komplimente für seine schöne Tochter. Die Antwort Grétrys ließ ihn erschauern: »›Ja‹, sagte ich ihm ins Ohr, ›sie ist schön und noch liebenswerter. Sie geht zum Ball, und in wenigen Wochen wird sie im Grabe liegen.‹ – Was für ein schrecklicher Gedanke!, sagte er zu mir. – ›Ich habe ihre beiden Schwestern gesehen‹, sagte ich, ›und mein Unglück ist nur allzu gewiss‹.« Er sollte Recht behalten, denn schon bald begann Antoinette zu fiebern. Sie starb ohne eigentliche Agonie, fast »heiter«, wie es in Grétrys ergreifender Darstellung heißt: »Sie nahm meine Hand und die ihrer Mutter und sagte mit einem sanften Lächeln: ›Ich sehe wohl, dass ich Abschied nehmen muss. Ich fürchte den Tod nicht – aber Ihr beiden, was wird aus Euch werden!‹ Sie saß aufrecht im Bett, als sie zum letzten Mal zu uns sprach. Dann legte sie sich nieder, schloss ihre schönen Augen und ward mit ihren Schwestern vereint.«
Der Euphemismus des letzten Satzes kann nicht darüber hinwegtäuschen, in »welch entsetzlichem Zustand« die Eltern zurückblieben. Sie richteten sich einer am andern auf: »Aus Mitleid mit mir hatte meine Frau die Kraft, das Leben zu ertragen, und zwang mich dadurch, es ihr nachzutun.« Beide durchlebten »eine lange und tiefe Trauer«. Die verwaiste Mutter übertrug alle ihre Liebe auf ihren Gatten, sie griff ihre Jugendbeschäftigung, das Malen, wieder auf und portraitierte zuerst ihre drei Töchter, später malte sie dann »öffentlich«, d.h. für den Lebensunterhalt der Familie, denn die Revolution hatte mittlerweile die Gehälter des einstigen »königlichen« Komponisten gestrichen.
Nach 1790 geriet Grétry in Schwierigkeiten wegen seiner früheren Beziehungen zum Königshaus. Eine seiner »royalistischen« Partituren wurde öffentlich verbrannt. Er hatte nur die Wahl, sich in den Dienst der neuen Ideen zu stellen oder sich Verfolgungen auszusetzen. Die Königin Marie-Antoinette, seine ehemalige Gönnerin, bestieg im Jahre 1793 das Schafott. Grétry glaubte, dass er einen genügend »hohen Tribut an das Schicksal gezahlt« habe und schrieb einige republikanische Opern, ohne große Begeisterung und ohne sonderlichen Erfolg, sowie eine Reihe von opportunistischen Gelegenheitswerken für die Französische Revolution, u.a. eine »Hymne zum Pflanzen des Freiheitsbaumes«. Sie trugen nichts zu seinem Ruhme bei und sind allesamt vergessen. Dem »aimablen« Grétry blieben die allzu lauten Revolutionsfanfaren eigentlich fremd.
Wesentlicher für Grétry war in diesen Jahren vermutlich das Redigieren seiner Memoiren. Das Kapitel 67 des zweiten Bandes, in dem er seine Tragödien schildert, kostete ihn am meisten Mühe. »Seit ich an diesem Kapitel schreibe, verdunkeln mir oft die Tränen den Blick. Drei Jahre ist es her, dass ich aufgehört habe, Vater zu sein … Zwanzigmal habe ich die Feder fortgeworfen, während ich dies schrieb.« In einer Fußnote präzisiert er, dass das Kapitel »im Verlauf dreier Jahre entstanden« sei. Kein Wunder, dass Romain Rolland gerade in diesen Bekenntnissen eines Erschütterten »das Lesenswerteste und Wertvollste« des riesigen Memoiren-Werkes erblickte, das in der Originalfassung 1376 Seiten umfasst.
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