Mit den Demokratisierungsbewegungen der 1860er-Jahre meldeten sich auch in der Schweiz vereinzelte Stimmen, die das Frauenstimmrecht forderten. Sie blieben ungehört. Bekannt ist die Petition der Sissacherinnen von 1862 aus dem Kanton Basel-Landschaft. 21Im Lauf der Arbeiten an einer neuen Zürcher Verfassung 1868 richteten «mehrere Frauen aus dem Volke» eine Eingabe an den Verfassungsrat mit folgendem Inhalt: «Soll die Losung des Züricher Volkes ‹Freiheit, Bildung, Wohlstand› zur That und Wahrheit werden, so müsste Jungfrauen und Frauen vom 20ten Lebensjahre an ein voller Antheil an allen bürgerlichen Rechten gewährt sein. Was wir nur aus diesem Grunde erbitten, was wir verlangen, das heisst: Wahlberechtigung u. Wahlfähigkeit für das weibliche Geschlecht in allen sozialen und politischen Angelegenheiten und Beziehungen.» 22
Die Eingabe ging als Nr. 99 in die systematische Übersicht der Revisionswünsche ein. Es war nicht die einzige: Auch Theodor Zuppinger aus Männedorf setzte sich für das «Stimmrecht der Bürgerinnen» ein, während Diakon Heinrich H. Hirzel aus Zürich eine «Stimmberechtigung des Frauengeschlechtes in Kirchen- und Schulgemeindeversammlungen» verlangte. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) kommentierte lakonisch: «Das Stimmrecht der Frauen, durch verschiedene Eingaben angeregt, fand in der Kommission keinen Anklang. Ein einziges Mitglied erklärte sich für die Emanzipation, verzichtete aber auf jede Antragstellung.» 23Bereits rund ein Jahrzehnt früher, 1857, hatte ein Neuenburger Grossrat anlässlich der Diskussion über die kantonale Verfassungsrevision kurz das Wahlrecht von Frauen eingebracht, allerdings nur für kirchliche Angelegenheiten und ohne dass die Sache weiterverfolgt worden wäre. 24
Transnationale und transkantonale Vernetzung
Anlässlich der Vorarbeiten zur Revision der Bundesverfassung von 1872 erfolgten mehrere Interventionen zur rechtlichen Gleichstellung der Frauen im Zivilrecht und auf wirtschaftlicher Ebene, nicht aber zur politischen Gleichstellung. 25Federführend waren die Genferin Marie Goegg-Pouchoulin (1826–1899) und die Bernerin Julie von May (1808–1875). 26Goegg war die Gründerin der ersten feministischen Organisation der Schweiz, der transnational vernetzten Association internationale des femmes (1868). Die Limitation auf das Zivilrecht und auf ökonomische Rechte war taktischer Natur. Wie Goegg 1870 ausführte, zählte der Zugang zu den politischen Rechten schon nur aus Gründen der Gerechtigkeit ebenfalls zu den Zielsetzungen der Association. Denn solange die Frauen nicht am allgemeinen Stimmrecht (suffrage universel) partizipierten, sei der Begriff irreführend. Gefordert wurde das Stimmrecht ferner aus materiellen Gründen: als Mittel zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. 27Goegg erreichte zwar, dass ab 1872 Frauen der Zugang zur Universität Genf prinzipiell offenstand. 28Doch weder ihre noch von Mays Petitionen und Schriften fanden bei den eidgenössischen Räten das nötige Gehör, um in die neue Bundesverfassung von 1872 respektive in die schliesslich verabschiedete von 1874 einzugehen. 29Der Ausbau der Volksrechte ging am weiblichen Geschlecht vorbei. Auch das 1912 in Kraft getretene Schweizer Eherecht war für die Frauen enttäuschend, wurden sie doch weiterhin der Vormundschaft ihres Ehemanns unterstellt.
Vor der Jahrhundertwende bis 1912: die organisationale und politische Konstruktionsphase
In der Schweiz ertönte die Frage der Geschlechtergleichstellung erst nach der Wachstumskrise Ende der 1880er-Jahre wieder zaghaft in der Öffentlichkeit. Die Frauenfrage wurde damals zur sozialen Frage. Das Studium stand Frauen nun an fast allen Schweizer Universitäten offen. Mit der revidierten Bundesverfassung war der Schulbesuch für alle Kinder obligatorisch geworden und kostenlos. 1882 bildeten die Frauen die Hälfte der Belegschaften in den Fabriken. Auch die Frauen aus der Mittelschicht begannen ins Erwerbsleben einzutreten, sei es am unteren Ende als Angestellte der Post oder am oberen wie Marie Heim-Vögtlin, die 1874 als erste Frau eine Praxis für Gynäkologie eröffnete.
Das Werden einer Forderung
Es waren aber vorerst immer noch einzelne, isolierte Stimmen, die sich zu Wort meldeten. Von der restlichen Schweiz unbeachtet, hatten 1892 anlässlich der kantonalen Verfassungsrevision vier Tessiner Grossräte beantragt, das Frauenstimmrecht einzuführen – erfolglos. 30Als erster Intellektueller verteidigte der Lausanner Philosophieprofessor Charles Secrétan (1815–1895) in seiner 1885 publizierten Schrift «Le droit de la femme» mit ähnlicher Argumentation wie Marie Goegg-Pouchoulin die politische Gleichheit. Der Zugang zu den politischen Rechten würde den Frauen ermöglichen, ihre Interessen zu verteidigen und mache die Frau erst zur juristischen Person. Am 1. Januar 1887 forderte die Bündner Aristokratin Meta von Salis (1855–1929) in einer Zeitung der Demokraten, der Züricher Post , das Frauenstimmrecht aus Gerechtigkeitsgründen. Wie neu und provokatorisch das Anliegen damals tönte, zeigt der Titel «Ketzerische Neujahrsgedanken einer Frau» sowie der redaktionelle Kommentar, dass es sich um eine Zuschrift handle und man diese aus Gründen der Meinungsfreiheit veröffentliche. 31Von Salis erfuhr aber bald, dass es Wege gab, unliebsame Frauen mundtot zu machen. Für ihre Stellungnahme für die Ärztin Caroline Farner wurde sie wegen Ehrverletzung angeklagt, worauf sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückzog. Anders Emilie Kempin-Spyri (1853–1901), die erste Juristin der Schweiz und im deutschsprachigen Raum: Sie gründete in Zürich 1893 die Zeitschrift Frauenrecht und den progressiven Frauenrechtsschutzverein. Nach Abschluss ihres Studiums 1887 war sie wegen ihres fehlenden Aktivbürgerrechts nicht zur Advokatur zugelassen worden. Sie reichte beim Bundesgericht Rekurs ein, scheiterte jedoch mit ihrer Klage, wonach Art. 4 BV «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich» sich auf die politische Gleichberechtigung der Frauen beziehen liesse. 32Dieser BGE schuf einen folgenreichen Präzedenzfall. 33
Die Forderung des Frauenstimmrechts war Ende des 19. Jahrhunderts noch umstritten, auch international. Selbst der International Council of Women, die erste Frauenorganisation, die sich ab 1888 transnational für die Menschenrechte der Frauen einsetzte, vermied es in den ersten 15 Jahren seiner Existenz, zu den politischen Rechten der Frauen Stellung zu nehmen. 341899 wurde das Thema sogar kontrovers traktandiert. Das führte zur Spaltung und 1904 zur Gründung der International Woman Suffrage Alliance (IWSA), der Speerspitze des transnationalen Stimmrechtskampfs.
Der erste Schweizerische Kongress für die Interessen der Frau, der 1896 in Genf stattfand, traktandierte das Frauenstimmrecht noch gar nicht. Mehrere Redner behandelten das Thema gleichwohl. Die beiden Genfer Professoren Louis Wuarin (1846–1927) und Louis Bridel (1852–1913) sprachen sich beide für die Einführung des Frauenstimmrechts aus, allerdings mit jeweiligen Vorbehalten. Wuarin meinte, die Frauen müssten es sich zuerst durch Dienstleistungen an der Allgemeinheit verdienen; Bridel erwartete zwar eine moralische Besserung der Gesellschaft, plädierte aber für ein etappenweises Vorgehen in der Gleichstellungspolitik, beginnend bei der zivilrechtlichen Gleichstellung bis hinauf zur politischen. 35Der Kongress in Genf skizzierte einige der Pfade, die in den folgenden Jahrzehnten beschritten werden sollten: zum einen den meritokratischen Weg über den weiblichen Leistungsbeweis, zum anderen das schrittweise politische Vorgehen. Er zeigt im Übrigen die Rolle transnationaler Vorbilder für den politischen Lernprozess des Schweizer Feminismus auf. Die Organisatorinnen Julie Ryff (1831–1908), Helene von Mülinen (1850–1924), Emma Boos-Jegher (1857–1932), Pauline Chaponnière-Chaix (1850–1934) und Camille Vidart (1854–1930) folgten dem Muster der amerikanischen Feministinnen und ihrem Woman’s Building an der Weltausstellung von Chicago im Jahr 1893, zu deren Anlass diese den Weltkongress der Frauen durchführten. Auch die Schweizerinnen liessen ihren Kongress örtlich und zeitlich mit einem Grossereignis zusammenfallen und profitierten so von der öffentlichen Aufmerksamkeit, welche die Schweizer Landesausstellung generierte. Eduard, der Mann von Emma Boos-Jegher, der die Chicagoer Ausstellung besucht hatte, diente als transatlantischer Ideenübermittler.
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