Dieser Paradigmenwechselist nicht zu unterschätzen, da Generationen von Managern dafür ausgebildet wurden, Effizienz zu betonen. Da, wo Produkte auf dem Fließband montiert werden, macht dies auch durchaus Sinn. In der Wissensarbeit geht es aber nicht darum, komplizierte Dinge zusammenzusetzen, sondern komplexe Probleme zu lösen. Softwareentwicklung, die sich mit neuen Funktionalitäten beschäftigt, findet zum Großteil statt, wenn die zuständigen Entwickler gemeinsam Ideen generieren, wie ein Problem gelöst werden kann. Dies sind Gespräche, die prinzipiell überall stattfinden können: im Teamraum, in der Kaffeeecke, in der Mittagspause oder beim Feierabendbier. Hier entsteht die Lösung, die dann nur noch handwerklich umgesetzt werden muss. Für den effizienzgetriebenen Manager wirkt es aber so, als würden die Entwickler gerade nicht arbeiten. Sie stehen an der Kaffeemaschine und arbeiten gerade nicht am Produkt. Erst wenn der Manager den Paradigmenwechsel vollzieht und versteht, dass Wissensarbeit sich grundlegend von der Produktion unterscheidet, wird er auch in der Lage sein, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Die Zeiten haben sich geändert und in den Zeiten der Digitalisierung ist Wissen zu großen Teilen im Internet frei verfügbar. Die Probleme sind komplexer geworden und Zusammenhänge sind sehr schwer zu erkennen. In diesem Umfeld hat der Wert von „Wissen“ an Bedeutung verloren. Was in diesem Kontext zählt ist „Können“. Die wenigsten Menschen werden durch das Lesen eines Buches über Kreativität über Nacht zum großen Innovator. Aber durch Anwendung und Ausprobieren von Kreativitätsmethoden können sie diese Fähigkeiten entwickeln.
Wenn Sie in einem Team sehr viele „Könner“ haben, dann fällt es Ihnen auch leichter, eine deutlich effektivere Art der Delegation zu nutzen. Um dies zu verdeutlichen, lassen Sie uns noch einmal einen kurzen Blick in die Zeiten der Industrialisierung werfen. Nachdem im Arbeitsbüro eine optimale Vorgehensweise zur Erledigung einer Aufgabe erarbeitet worden war, ging Frederick Taylor zu dem entsprechenden Arbeiter und erklärte ihm haarklein, wie er die Aufgabe zu erledigen habe. Der Arbeiter hörte gut zu und tat dann genau das, was Taylor ihm mitgeteilt hatte. Dieses Prinzip nennt man Aufgabendelegation. Das Problem ist, dass diese Art der Delegation sehr ineffizient ist. Denn wenn eine Aufgabe delegiert wird, dann muss derjenige, der sie abgibt, auch schon den Lösungsweg mit übergeben und am Ende sicherstellen, dass die Aufgabe auch zur Zufriedenheit erledigt ist. Man spart dadurch zwar Zeit und Kraft, muss aber immer noch eine Menge Aufwand investieren, um zu kontrollieren, ob das gewünschte Ziel erreicht wurde.
Besser wäre, statt Aufgaben die Verantwortungzu delegieren1. Das bedeutet, dass nicht mehr eine Liste von Arbeitsschritten an eine weitere Person übergeben wird, sondern dass man dieser Person den erreichten Zielzustand und die Erwartungshaltung vermittelt und ihr dann den Freiraum lässt, dieses Ziel so zu erreichen, wie sie es für sinnvoll erachtet. Diese Person übernimmt dann Verantwortung für das Ergebnis. Diese Art der Delegation ist der Aufgabendelegation um ein Vielfaches überlegen. Sie gründet sich auf Vertrauen und Proaktivität und nicht auf Anweisung und Kontrolle. Dadurch kann derjenige, der delegiert, seine Zeit und Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten und sich auf die Menschen verlassen, die sich um die Erreichung der Ziele kümmern.
In der industriellen Produktionshalle war es nicht gern gesehen, wenn ein Arbeiter mitdachte oder Anweisungen in Frage stellte. Die Aufgaben waren klar verteilt, und die des Arbeiters bestand darin, Anweisungen auszuführen und das Denken dem Arbeitsbüro zu überlassen. In vielen klassischen Organisationen findet man Überbleibsel dieser Haltung, die sich darin zeigen, dass Entscheidungen auf bestimmten Hierarchieebenen getroffen werden und es nicht gern gesehen wird, wenn sie in Frage gestellt werden. Die Position im Organigramm liefert die Berechtigung, nicht die Fachkenntnis und Expertise der Person.
Abb. 6:
Von Hierarchie zu Vernetzung
Was in komplizierten Umfeldern noch sehr effizient funktioniert haben mag, erweist sich im komplexen Umfeld als problematisch. Daher ermutigen moderne Organisationen ihre Mitarbeiter dazu, mitzudenken und querzudenken. Sie fördern Eigentümerkultur und Proaktivität und geben ausreichend Freiräume. Das klassische Organigramm ist oft noch für rechtliche Verbindlichkeiten und Fragen der Compliance vorhanden, aber die Mitarbeiter arbeiten auf Augenhöhe miteinander.
Stephen R. CoveyCovey, Stephen R. unterscheidet zwischen P, der Produktion, und PK, der Produktionskapazität(Covey 2018). Anhand der Geschichte der goldenen Gans macht er sehr schön deutlich, dass eine zu große Konzentration auf die Produktion dazu führt, dass man vor lauter Gier die Gans schlachtet, um an die goldenen Eier in ihr zu gelangen. Dummerweise ist die Gans dann tot. Man hat zwar schnell einen kurzfristigen Erfolg erzielt, aber leider ist dann Ende mit den goldenen Eiern. Daher muss man auch genug Aufmerksamkeit auf die Pflege der Gans verwenden, auch wenn es erst wieder dauern wird, bis man ein goldenes Ei bekommt. Traurige Realität in vielen klassischen Unternehmen ist, dass kurzfristige Erfolge gesucht werden und dabei die langfristigen Entwicklungen nicht berücksichtigt werden. P und PK geraten aus dem Gleichgewicht.
In agilen Organisationen ist die Erkenntnis eingekehrt, dass das größte Kapital die Menschen darstellen, die helfen, die Ziele zu erreichen. Als Leistung wird hier nicht die Produktion, sondern die kontinuierliche Entwicklung angesehen, die dazu führt, dass PK sich erhöht, was dann auch die Verbesserung von P nach sich zieht. Stephen Covey berichtet von einem Gespräch zwischen zwei Managern, von denen der eine unsicher fragt: „Aber was ist, wenn wir alle unsere Mitarbeiter weiterentwickeln und sie dann unser Unternehmen verlassen?“ Woraufhin der andere antwortet: „Ja, aber was, wenn wir es nicht tun und sie alle bleiben?“
Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit
Für die Lösung einer Aufgabe in den Produktionshallen des 20. Jahrhunderts konnte sehr genau definiert werden, welche Fähigkeiten die Person haben musste, die die Arbeit verrichten sollte. So konnte man für gewisse Arbeiten ganz gezielt nach Menschen mit sehr passenden (und daher auch ähnlichen) Fähigkeiten suchen. Man konnte so etwas wie Prototypen erkennen, die die Arbeit am effizientesten erledigen würden und strebte danach, so viele Arbeiter wie möglich zu finden, die diesem Prototyp möglichst nahekamen, strebte also bewusst oder unbewusst nach Homogenität.
Abb. 7:
Von Eindeutigkeit zu Mehrdeutigkeit
Die Aufgaben in der Digitalisierung erfordern hingegen, dass unterschiedliche Disziplinen zu einer Lösung beitragen. Innovation entsteht aus Diversität. Natürlich bringt das Reibung mit sich, die in einer klassischen Organisation möglichst vermieden werden soll, da sie die Effizienz senkt. Aber in einem innovativen Umfeld entsteht durch die Reibung auch viel Neues. Die Diskussionen und Reibungen werden nicht als störend, sondern als Vorteil erlebt. Daher verlangt die Digitalisierung nach Heterogenität. Diese kritische Auseinandersetzung und Reibung, die Bestehendes hinterfragt und neue Perspektiven einbringt, hat einen weiteren positiven Effekt.
Читать дальше