Und dann sah er sich.
Sah, wie er frühmorgens das Haus verließ, sah sich am See in seiner Stockhütte schlafen, sah sich auf dem Fabrikgelände, hatte Hunger und wachte auf.
Er lag auf dem Boden. Um ihn herum war es dunkel und kalt.
Zögernd richtete er sich auf und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Wo war diese seltsame Frau geblieben? Hatte er sie sich nur eingebildet? Wo waren die Bilder, die er gesehen hatte? Warum war er wieder allein, wo er sich doch in der Gesellschaft von Merkuriamam so wohl gefühlt und gar nicht mehr fortgewollt hatte? Was hatte das alles zu bedeuten?
Tastend fuhren seine Hände über den Boden, sie stießen gegen einen runden Stein. Er fühlte sich sehr glatt an. Ohne nachzudenken steckte er ihn in seine Hosentasche. Langsam konnte er Umrisse erkennen und erblickte nicht weit von sich entfernt Treppenstufen. Er kroch darauf zu und bewegte sich aufwärts. Auf allen Vieren kroch er höher und höher. Endlos erschien ihm sein Aufstieg.
Als schließlich Licht die Treppe erhellte, fühlte er sich erleichtert, richtete sich auf und kam zurück ins Tageslicht.
Es regnete. Scharf zeichneten sich die Umrisse der Gebäude ab. Er trat einen Schritt von der Treppe weg und schaute sich prüfend um.
Ja doch, es war alles so, wie er es schon viele Male gesehen hatte. Zum Schluss drehte er sich noch einmal nachdenklich zur Treppe um. Sie war verschwunden. Das Eisenblech schaute kaum unter den Grassoden hervor, als hätte er nie den Versuch unternommen, es zu heben. War er wirklich hinabgestiegen und wieder hochgestiegen? Doch, es musste wahr sein!
Der Regen wurde stärker. Wohin sollte er gehen?
Als er seinen Hunger spürte, entschloss er sich, nach Hause zu fahren. Auch wenn niemand da sein sollte, würde er schon irgendetwas Essbares finden. Er schaute noch in seinen Jackentaschen nach, aber alles, was sich dort befunden hatte, hatte er schon aufgegessen.
Sein Fahrrad entdeckte er dort im Gebüsch, wo er es abgestellt hatte. Etwas lahm schwang er sich auf den Sattel, und radelte so schnell er konnte zur Wohnung der Mutter.
Es war niemand zu Hause, aber im Kühlschrank fand er Wurst, Käse und Joghurt. Kauend ging er in sein Zimmer und schaltete den Fernseher an.
Marie Sophie fehlt es eigentlich an nichts
„So, Marie-Sophie, ich gehe jetzt! Essen steht für dich bereit! Hab noch einen schönen Abend und geh nicht zu spät ins Bett! Bis morgen!“
Um 19.30 Uhr hatte sich Frau Sager von ihr verabschiedet, hatte ihr noch einige Schnitten hingestellt und war gegangen. Frau Sager war eine ältere Dame, die immer einsprang, wenn die Eltern zu lange in ihrer Anwaltskanzlei bleiben mussten, und die sie auch tagsüber betreute. Sie kochte das Mittagessen für sie und fuhr sie mit dem Auto überall dorthin, wohin sie zu Fuß nicht gelangen konnte. Sie betreute sie zuverlässig und erledigte leichte Hausarbeiten. Die Eltern, Herr und Frau Banner, waren sehr froh, eine so gute Betreuung für ihre Tochter gefunden zu haben. Ja, eigentlich fehlte es Marie-Sophie an nichts. Ihre Wünsche wurden sofort erfüllt. Sie besaß Unmengen von Büchern, Spielzeug und Kleidung.
Nachdem Frau Sager das Haus verlassen hatte, stellte Marie-Sophie sich an das große Fenster im Wohnzimmer und schaute hinaus in den Garten. Es war noch hell draußen. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf den Rasen und tauchten ihn in ein warmes Gelb. Eifrig sausten Vögel umher und zwitscherten um die Wette. Sie traute sich jedoch nicht, die Terrassentür zu öffnen, aus Furcht davor, dass jemand ins Haus eindringen könnte.
So schaute sie eine Weile einfach hinaus. „Was mache ich jetzt?“Als es ihr zu langweilig wurde und sie das Verlangen spürte, sich zu bewegen, legte sie eine CD auf und begann danach zu tanzen. Sie liebte Musik und tanzte einfach gern. Zunächst stand sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden und bewegte den Körper leicht schwingend hin und her, dann kreiste sie mit den Armen zum Rhythmus der Musik und schwebte leichtfüßig durch das ganze Zimmer. Schneller und schneller stampfte sie mit den Füßen, warf den Kopf mit den langen Haaren in den Nacken und ließ sich zum Schluss zusammenfallen.
Summend zog sie dann ins Badezimmer. Sie wollte ins Bett, dort konnte sie es sich so richtig gemütlich machen.
Als sie an ihrer ausgepackten Geige vorbeikam, spielte sie noch eine leichte Melodie. Da sie aber nicht sehr bei der Sache war, erklangen einige Töne reichlich schnarrend, und sie legte die Geige rasch weg.
„Nun wird es gemütlich!“ Leichtfüßig sprang sie ins Bett, schichtete viele Kissen hinter sich auf und begann, sich wohlig einzukuscheln. Lauschend setzte sie sich nach kurzer Zeit wieder auf und wartete darauf, ob sich nicht doch schon der Schlüssel im Türschloss drehte und die Eltern nach Hause kamen. Ohne die Eltern fühlte sie sich sehr allein. „Ach, es wird heute wohl wieder spät!“
Aus den vielen Büchern, die auf ihrem Nachtisch lagen, suchte sie sich eins aus und begann zu lesen. Sie las gern im Bett. Die vielen Kissen machten es schön kuschelig.
Auf ihren Nachttisch hatte sie einen Teller gestellt, auf dem zwei Gewürzgurken, mehrere Scheiben Schinken und einige Stücke Schokolade lagen. Ab und zu steckte sie sich ein Stück Schokolade in den Mund. Wenn der Geschmack im Mund zu süß wurde, schob sie eine Scheibe Schinken hinterher und biss anschließend genussvoll von einer Gewürzgurke ab. Diese Reihenfolge wiederholte sie einige Male, na ja, wenigstens so lange, bis ihr etwas übel war. Aber so weit war es heute noch nicht, denn das Buch erregte ihr Interesse so sehr, dass sie das Essen vergaß.
Das Buch hatte zur Leselektüre der Großmutter in ihrer Jugend gehört. Es handelt von einem dreizehnjährigen Mädchen, das nach dem Zweiten Weltkrieg allein mit seinem kranken Vater lebt und versuchen muss, Geld zu verdienen, als dieser ins Sanatorium kommt. Nach einigen Anfragen wird sie schließlich in einem Hotel angestellt und darf auch noch morgens in die Schule gehen. Diese Doppelbelastung führt natürlich zu Schwierigkeiten.
Gespannt verfolgte Mary-Sophie das Leben des Mädchens und atmete auf, als das Mädchen eine Frau, die keine Kinder hat, findet, die sie liebevoll aufnimmt und umsorgt. Umsorgen heißt, sie ist immer da, wenn sie Kummer hat, sie kocht für sie, und sie unternehmen vieles gemeinsam.
„Schön wäre es, wenn ich auch jemanden hätte, der immer bei mir ist“, dachte Marie-Sophie. „Nach dem Krieg waren die Lebensbedingungen schwierig, aber leicht sind sie heute auch nicht.“
Sie hörte die Uhr im Wohnzimmer elfmal schlagen. Sie sollte nicht länger lesen und das Licht in ihrem Zimmer ausschalten, denn heute würde sie ihre Eltern wohl nicht mehr sehen. Sie kuschelte sich in die warmen Kissen, legte beide Arme um ihren Körper und versuchte einzuschlafen. Das Mädchen im Buch hatte tatkräftig sein Leben in die Hand genommen, das war wirklich bewundernswert.
In diesem Augenblick hörte sie die Umdrehung des Schlüssels in der Haustür. Mit wehendem Mantel kamen die Eltern bald darauf in ihr Zimmer gestürmt.
„Wie schön, meine Süße, dass du noch wach bist, wir hatten wieder so viele Fälle zu bearbeiten, wir haben es einfach nicht früher geschafft. Aber Frau Sager hat doch sicherlich gut für dich gesorgt?“
„Ja, ja, mir geht es gut. Außer euch habe ich nichts vermisst.“
„Am Wochenende werden wir uns ganz viel Zeit für dich nehmen, mein Püppchen“, sagte der Vater und gab ihr einen Kuss. „Und nun sieh zu, dass du schnell einschläfst.“ Auch die Mutter drückte ihr noch einen Kuss auf und dann zogen sich beide in ihr Schlafzimmer zurück.
Nun konnte Marie-Sophie beruhigt einschlafen. Sie war nicht mehr allein und brauchte sich nicht mehr zu fürchten. Ziemlich schnell schlief sie ein. Sie fühlte noch, wie sie schwerer und schwerer wurde.
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